Der Kinderdieb
Licht der Welt gezerrt hatten. Dann das verwaschene, gleißend helle Licht, die betäubende Kälte, der Schock, als ihm jemand aufden Hintern schlug, die hilflose Wut, mit der er den verschwommenen Klecks anbrüllte, der ihn festhielt, und das schallende Gelächter der anderen.
Dann wischte man ihn ab und gab ihn an sanfte, liebkosende Hände weiter, die ihn an einen warmen, milchprallen Busen drückten. Jemand wickelte ihn in eine am Kamin erwärmte Decke, und er fing an zu saugen. Die Milch war süß, und die Frau begann, ein leises Schlaflied zu singen. Peter fiel in den wohligsten Schlaf, den er je erleben durfte.
Damals war der Geruch der Erwachsenen noch nicht abstoßend gewesen. Damals hatte er sich mit dem würzigen Aroma des großen Familienrundhauses vermischt, mit den rauchigen Düften des Kamins, mit Pökelfleisch und Honigmet, mit gebratenen Maronen und gekochtem Kohl, mit dem Tiergeruch zweier Wolfshunde, mit feuchten Strohlagern und mit der leichten Schärfe frisch geschnittenen Tannengrüns, das von den Deckenbalken hing. Doch es war der Duft seiner Mutter, der all das in harmonischen Einklang brachte, der Duft warmer, süßer Milch, der für ihn immer der Duft der Liebe bleiben würde.
Damals waren seine Augen bernsteinfarben und wiesen nur eine winzige Spur Gold auf, und seine Ohren waren zwar bereits seltsam geformt, hatten aber noch keine Spitzen ausgebildet. Abgesehen von seinem außergewöhnlich dichten rötlichen Haar sah er wie jedes andere engelsgesichtige Neugeborene aus.
Peter überwinterte die ersten Wochen seines Lebens in den Armen seiner Mutter und in einem großen Weidenkorb beim Herdfeuer. Heute konnte er sich nicht mehr an das Gesicht seiner Mutter erinnern, sehr wohl aber an ihre grasgrünen Augen und an ihr leuchtend rotes Haar.
Seine Mutter war nie weit weg. Sie sang für ihn, während sie mit ihren beiden goldhaarigen Geschwistern Wolle wob undTuniken flickte. Den größten Teil des Tages verschlief er und beobachtete seine große Familie dabei, wie sie ihrem Tagewerk nachging: Die beiden Männer und der älteste Sohn brachen noch vor Morgengrauen zur Jagd auf, die Jüngeren kümmerten sich um die Schafe und sammelten Feuerholz, und der alte, gebeugte Mann und seine alte, gebeugte Frau gingen ihren Beschäftigungen nach, solange das Tageslicht es ihnen ermöglichte. Bei Sonnenuntergang kehrten die Jäger heim, und dann versammelte die Familie sich zum Abendessen um den groben Eichenholztisch, wo die dicken Steinwände sie vor den Winterwinden schützten.
Tag um Tag lag Peter dort und schaute und lauschte. Es dauerte nicht lange, bis er einzelne Wörter erkannte und schließlich auch ganze Sätze. Im Alter von drei Wochen verstand er das meiste von dem, was um ihn herum gesprochen wurde.
Jeden Abend vor dem Essen stillte seine Mutter ihn, wickelte ihn in seine Decke und legte ihn zum Schlafen in den großen Korb am Herd, während die Familie aß. Doch Peter schlief nicht. Er beobachtete und lauschte, wie die anderen lachten und scherzten, fluchten und stritten, einander ermutigten und trösteten, wie sie die guten und die schlechten Erlebnisse des Tages miteinander teilten. Wenn sie lachten, lächelte er, und die winzigen goldenen Pünktchen in seinen Augen funkelten, denn der Klang ihrer Heiterkeit war süße Musik in seinen Ohren.
Eines Abends, in der siebten Woche, die er auf der Welt war, beschloss Peter, dass er genug davon hatte, immer nur zuzusehen. Er wollte Teil des Geschehens sein. Also strampelte er sich aus seiner Decke frei, setzte sich auf und kletterte aus seinem Korb. Seine Beine gaben unter ihm nach, und er landete mit einem lauten Klatschen auf dem nackten Hintern.
Was ist mit meinen Beinen?
, fragte er sich. Er war überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass er noch nicht laufen konnte. Alleanderen konnten es schließlich. Er zog sich mit wackeligen Beinen hoch und hielt sich an seinem Korb fest. Dann blickte er sich im Raum um. Plötzlich kam ihm der Tisch sehr weit weg vor.
Er machte einen ersten vorsichtigen Schritt, fiel hin, zog sich hoch und versuchte es erneut. Diesmal fiel er nicht. Er machte noch einen Schritt und noch einen, und dann ließ er den Korb los und trat seinen Weg quer durch den Raum an. Beim sechsten und siebten Schritt watschelte er bereits zielstrebig und mit angespannt konzentrierter Miene auf den Tisch zu.
Der alte Mann bemerkte ihn als Erster. Sein mahlender Kiefer klappte herunter, ein Stück Marone kullerte ihm aus dem
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