Der Kinderdieb
Mund und prallte vom Tisch ab. Die alte Dame runzelte die Stirn und gab dem alten Mann einen Klaps. Dieser wiederum stieß einen Schrei aus und deutete mit einem knochigen Finger auf Peter.
Nun drehten auch die anderen die Köpfe und sahen, wie der nackte Säugling auf den Tisch zulief.
Peter, der ganz beglückt darüber war, die volle Aufmerksamkeit seiner Familie zu genießen, stemmte die kleinen, knubbeligen Hände in die Hüften und grinste kühn. Die Goldsprenkel in seinen Augen leuchteten nun regelrecht. Als niemand etwas sagte, als niemand etwas anderes von sich gab als ein hohes Keuchen, fragte Peter: »Kann ich mich dazusetzen?« Aber weil es das erste Mal war, dass er Wörter bildete, klang der Satz eher wie: »Annichich uhusehe?«
Er runzelte die Stirn, als ihm auffiel, wie seltsam seine Stimme sich anhörte. Das hatte irgendwie falsch geklungen, und die erschreckten und verblüfften Blicke, denen er sich gegenübersah, bestätigten ihn in dieser Einschätzung. Die winzige Stirn in Falten gelegt, versuchte er es erneut. »Kann ich mich dazusetzen?«, sagte er schon sehr viel deutlicher. Zuversichtlich wiederholte er: »Kann ich mich dazusetzen? Ja?«
Erwartungsvoll blickte er von einem Gesicht zum anderen. Das musste doch richtig gewesen sein? Trotzdem starrte seine Familie ihn erschreckt und mit aufgerissenen Augen an.
Wenn überhaupt
, dachte er,
sehen sie sogar noch beunruhigter aus als eben – wenn nicht gar wütend
. Sein Lächeln verblasste, und mit einem Mal wollte er unbedingt zu seiner Mutter. Er brauchte die Sicherheit, die ihm nur ihr weicher Busen und ihre warmen Arme geben konnten, also streckte er die Arme aus und machte einen Schritt auf sie zu. »Mama«, sagte er.
Seine Mutter stieß beim Aufstehen ihren Stuhl um und schlug die Hände vor den Mund.
Peter blieb stehen. »Mama?«
Angst – blanke Angst stand in ihren Gesichtern. Doch auf dem Gesicht seiner Mutter sah er mehr als nur Angst. Ihre Augen funkelten ihn wütend an, als wollten sie ihn irgendeiner schrecklichen Tat beschuldigen.
Was habe ich getan?
, fragte sich Peter.
Was habe ich bloß getan?
Die alte Frau sprang auf und schwang einen großen Holzlöffel.
»WECHSELBALG!«,
schrie sie.
»SCHAFFT ES HIER RAUS!«
»NEIN!«,
rief seine Mutter und schüttelte den Kopf. »Er ist kein Wechselbalg. Er ist das Kind von IHM. Dem aus den Wäldern.« Sie schaute mit einem Blick wilder Verzweiflung in die Runde. »Seht ihr es jetzt? Glaubt ihr mir endlich?«
Niemand hörte ihr zu. Aller Augen waren auf Peter gerichtet.
»HALTET ES VON DEN KINDERN FERN!«,
schrie die Alte.
Der alte Mann führte die jüngeren Kinder vom Tisch fort und schob sie in den hinteren Teil des Raums, so weit weg von Peter wie möglich.
Seine Mutter packte die alte Frau am Ärmel. »Hör auf! Hör endlich auf! Peter ist kein Wechselbalg, Mama. Ich habe nichtgelogen. Er hat mich genommen – der Waldgeist.« Sie zeigte auf Peter. »Ich habe dieses Kind vom Waldgeist.«
Die alte Frau starrte Peters Mutter entsetzt an. »Nein, Kind, sprich nicht davon. Sprich niemals davon.« Sie schüttelte ihre Tochter. »Es ist nicht von dir. Hörst du? Es ist ein Wechselbalg.« Die alte Frau starrte Peter wütend an.
»ASGER, SCHAFF ES HIER RAUS, BEVOR ES UNS ALLE VERHEXT!«
Einer der Männer zog die lange Fleischgabel aus dem Schinken, der älteste Sohn griff nach dem Besen, und gemeinsam näherten sie sich dem Säugling.
Durch einen Tränenschleier sah Peter, wie die beiden auf ihn zukamen. Der Mann, der für ihn sein Papa gewesen war, hielt ihm drohend die Gabel entgegen, während der Sohn ihn umrundete.
Peter trat einen Schritt zurück.
»FANGT ES!«,
heulte die Alte. »Lasst es nicht entkommen!«
Der Besen traf Peter von hinten und ließ ihn auf den Boden aus festgetretener Erde stürzen. Der Junge drückte Peter mit dem Besen nieder, um ihn festzuhalten, sodass die spitzen Reisigzweige in seine weiche Haut stachen.
»Vergießt sein Blut nicht hier im Haus!«, rief die Alte. »Sonst wird eine schwere Krankheit über uns kommen. Bringt es in den Wald. Überlasst es den wilden Tieren.«
Harte, raue Hände hielten den Säugling fest. Der Mann fesselte ihm mit juckenden Stricken die Arme an den Rumpf und die Beine aneinander. Er zog die Stricke so fest, dass sie Peter in die Haut schnitten.
Während Mann und Sohn ihre Stiefel und Fellkleidung überstreiften, holte die Alte Peters Korb und seine Decke. »Nehmt alles mit, was er beschmutzt hat. Ich hole das Fett.«
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