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Der Kinderdieb

Titel: Der Kinderdieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brom
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wirbelndes Kaleidoskop des Wahnsinns zu verwandeln. Nick begriff, dass er schlicht und ergreifend verrückt geworden war.

 

     
KAPITEL 6
Wolf
     
    Der Kinderdieb saß auf einer Bank am Spielplatz. Die Gebäude ragten zu allen vier Seiten des Platzes um ihn auf. Als der Morgen sich dem Mittag näherte, erwachten die Wohnungen langsam zum Leben wie die Waben eines Bienenstocks. Der Blick des Kinderdiebs suchte die Balkone ab und hielt aufmerksam nach aufsässigen Jugendlichen Ausschau, doch größtenteils sah er nichts als die immergleichen müden, verkaterten Gesichter der Erwachsenen. Sie sammelten sich in kleinen Gruppen und hingen lustlos auf den Balkonen herum, oftmals bei offenen Türen, aus denen Dosenmusik über den Platz schallte. Dann und wann war ein Lachen zu hören, doch meistens klang es niederträchtig. Viele starrten einfach mit glasigem Blick ins Leere. Sie erinnerten Peter an die Toten im Nebel.
    Da drang ein fröhliches Quietschen an sein Ohr, gefolgt von lautem Gelächter, das ihn lockte wie Naschwerk. Ein paar kleine Kinder trotzten dem Nieselregen, rutschten und kletterten am Klettergerüst herum. Dann bildeten sie Mannschaften und spielten mit Hingabe Fangen.
    Der Kinderdieb sah ihnen lächelnd zu. Hier, zwischen so viel Trübsal, gelang es diesen Kindern, Freude zu finden, ungeachtet der obszönen Graffiti, die jede verfügbare Fläche verunzierten.
Sie schaffen es immer, Freude zu finden
, dachte er,
weil sie ihren Zauber noch nicht verloren haben
.
    Peter erwischte sich bei dem verzweifelten Wunsch, mit ihnen herumzurennen und zu spielen. Es handelte sich um dasselbeBedürfnis, das er verspürt hatte, als er vor all den Jahren zum ersten Mal Kindern begegnet war. Nur war die Sache damals nicht besonders gut gelaufen. Sein Lächeln verblasste.
Nein, an jenem Tag hatte er eine sehr schwere Lektion lernen müssen
.
     
    Damals war er sechs Jahre alt gewesen. Leise schlich er durch den Wald. Sein Waschbärenpelz flatterte wie ein Umhang hinter ihm her, und der lange, gestreifte Schwanz wippte im Takt seiner Schritte. Den Kopf des Pelzes hatte er sich wie eine Kapuze ins Gesicht gezogen. Unter dieser Waschbärenmaske spähten seine goldgesprenkelten Augen hervor und suchten das Unterholz nach Beute ab. Es war Frühling, weshalb er unter dem Pelz nur einen Lendenschurz und Wildlederstiefel trug. In jeder Hand hielt er einen Speer, und im Gürtel hatte er ein Feuersteinmesser. Die Haut hatte er sich mit Beerensaft und Schlamm eingerieben, um seine Witterung zu überdecken. Das hatte ihm Goll beigebracht, ebenso wie er ihn gelehrt hatte, warum man immer zwei Speere dabeihaben musste: einen leichten für Jagdwild und einen robusteren, um sich gegen die größeren Tiere des Waldes zu verteidigen.
    Peter legte eine Handvoll Walnüsse in die Mitte einer Lichtung und duckte sich hinter ein hohes Gebüsch. Als er zwei braune Eichhörnchen in einem nahen Baum bemerkte, legte er die Hände an den Mund und ahmte den Ruf eines Truthahns auf Futtersuche nach. Auch diesen Trick hatte ihm Goll beigebracht. Es war besser, ein anderes Tier nachzuahmen, als das, welches man jagte, weil es nur selten gelang, ein Tier in seiner eigenen Sprache zu täuschen, und weil nichts sie schneller herbeilockte als das Geräusch anderer Tiere beim Fressen.
    Tatsächlich trippelten die beiden Eichhörnchen auf ihn zu. Langsam legte Peter den großen Speer beiseite und hob den leichten an die Schulter. Die Eichhörnchen entdeckten die Nüsse, sahen einander und flitzten auf ihre Beute zu.
    Peter erhob sich und warf. Der Speer traf und streckte eines der Tiere nieder, während das andere wütend keckernd davonrannte.
    Der Junge stieß einen Kriegsschrei aus und sprang auf.
Diesmal keine Spinnensuppe für mich
, dachte er.
Heute gibt’s gedünstetes Eichhörnchen
.
    Ein Wolf trottete auf die Lichtung und stellte sich zwischen Peter und seine Beute. Er hatte nur ein Ohr.
    Der Junge erstarrte.
    Der Wolf richtete den Blick seiner dunklen Augen fest auf Peter. Er fletschte die Zähne, sodass es beinahe aussah, als ob er grinste.
    Peter nahm seinen schweren Speer und hielt ihn vor sich. »Nein«, sagte er. »Diesmal nicht.«
    Ein tiefes Knurren stieg aus der Kehle des Wolfs auf.
    Peter blieb standhaft. Der Wolf hatte ihn in den letzten paar Monaten unentwegt geplagt. Jedes Mal, wenn Peter etwas erlegte, tauchte der Wolf auf und stahl ihm seine Mahlzeit. Der Junge war die Spinnensuppe leid. Heute würde er seine Beute nicht

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