Der Kinderdieb
hergeben.
Die Augen des Wolfs lachten Peter aus, verhöhnten ihn, forderten ihn heraus, als würde das Raubtier ihm nur zu gerne die Kehle aufreißen.
Peter schluckte hörbar. Sein Mund war plötzlich trocken. Goll hatte ihm gesagt, dass es nur eine Möglichkeit gab, dem Wolf beizukommen: Er musste ihn direkt attackieren. »Wolf ist Jäger«, hatte er gesagt. »Wenn du Wolf jagst, er kommt durcheinander. Weiß nicht, was er tun soll. Dann du besiegst Wolf. Du wirst sehen. Wenn du zeigst Angst, dann isst Wolf dich.« Goll hatte gelacht. »A-yuk.«
Jetzt
, dachte Peter.
Stürm vor. Bohr ihm den Speer ins Herz
.
Der Wolf senkte den Kopf und begann, den Jungen langsam zu umkreisen. Peter wusste, was das Tier vorhatte. Sie hattendiesen Tanz schon oft getanzt. Der Wolf wollte ihm den Rückweg abschneiden und sich zwischen ihn und den nächsten Baum bringen. Peter wusste, dass der Wolf ihn angreifen würde, wenn er ihn auch nur für eine Sekunde aus den Augen ließ.
Der Wolf stieß ein lautes Knurren aus.
Peter warf einen Blick Richtung Baum.
Der Wolf stürmte los.
Peter quiekte, ließ den Speer fallen und rannte los. Glücklicherweise war der Junge schon mit seinen sechs Jahren flink und beweglich wie ein Eichhörnchen. Er schoss über die Lichtung, sprang auf den Baum zu, erfasste einen tiefen Ast und zog sich hoch. Das laute Schnappen von Zähnen war zu hören, und dann zerrte etwas so fest an ihm, dass er beinahe herabgestürzt wäre. Peter kraxelte eilig ein paar Äste höher, bevor er einen Blick nach unten riskierte.
Dort stand der Wolf und schaute zu ihm hoch. Der Waschbärenschwanz hing ihm aus dem Maul.
Das Raubtier ging ein paar Mal um den Baum herum und trottete dann zu dem toten Eichhörnchen hinüber.
Von seinem schmalen, unbequemen Ausguck aus musste Peter zusehen, wie der Wolf
sein
Abendessen verschlang.
Als der Wolf fertig war, rollte er sich unter dem Baum zusammen und schlief ein.
Während der lange Tag sich langsam dem Ende entgegenneigte, gab Peter sich alle Mühe, seine Beine nicht einschlafen zu lassen und nicht vom Baum zu fallen. Als der Abend hereinbrach, fühlte sein ganzer Körper sich taub an, und er hatte sich bereits damit abgefunden, dass er eine scheußlich ungemütliche Nacht verbringen würde.
»Na, schau an«, rief eine raue Stimme. »Ein Petervogel.«
Sowohl Peter als auch der Wolf blickten auf. Goll war auf einem kleinen Felsvorsprung über ihnen aufgetaucht.
Er schaute auf den Wolf und die Reste des Eichhörnchensherunter und wandte den Blick dann wieder Peter zu. Er grinste. »Fütterst du schon wieder altes Einohr? A-yuk.«
Peter errötete und wandte sich ab.
Goll lachte. Er sprang von dem Felsen herab und schlenderte durchs Unterholz auf die Lichtung. Der Wolf, der wusste, wie ein Kampf für ihn ausgehen würde, bedachte den Moosmann mit einem abfälligen Blick und machte sich mit weiten Sätzen davon.
Peter ließ sich aus dem Baum fallen, holte sich seine Speere zurück und schlurfte mit hängenden Schultern zu Goll.
Der hielt ein großes Kaninchen in die Höhe. »Goll isst heute Abend gut.« Mit dem Fuß stieß er die Überreste des Eichhörnchens an. »Sieht aus, als kriegt Peter wieder Spinnensuppe. A-yuk.«
Peter sackte in sich zusammen. »Ach, Goll. Komm schon.«
»Du willst gut essen. Du musst gut jagen.«
Der Junge trat gegen die übriggebliebenen Fellfetzen und folgte Goll betreten zurück zur Höhle.
Peter stippte seinen Löffel in die Schale mit trübem Suppenschleim. Er hob sie auf Augenhöhe und spähte über die durchweichten Spinnenbeine hinweg auf das halb aufgegessene Kaninchen in Golls Hand. Der Duft gerösteten Fleischs erfüllte die Höhle. Der Moosmann leckte sich laut schmatzend das Fett von den Fingern und brummte zufrieden.
»Bitte!«, sagte Peter.
Goll schüttelte den Kopf.
»Nur ein paar Bissen?«
»Du kennst Regel. Du isst, was du tötest. Du willst Kaninchen, du tötest eigenes Kaninchen. A-yuk.«
»Wie soll ich das hinkriegen, solange dieser dumme Wolf mir hinterherläuft?«
»Du musst Wolf töten.«
Peter schwieg eine ganze Weile. »Goll, kannst du den Wolf töten? Bitte?«
Goll schüttelte den Kopf. »Jagt nicht mich.«
Peter stieß einen Seufzer aus und setzte seine Schüssel ab. Er erhob sich, ging zum Höhleneingang und schaute in die Nacht hinaus. Durch das Frühlingsgrün sah er die Sterne funkeln. Er dachte an seine Mutter. Manchmal, wenn er die Augen schloss, konnte er sogar ihr Haar riechen. Er fragte sich,
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