Der Kinderdieb
mitlachte, und musste sich den Mund zuhalten. Es sah aus, als hätten sie Spaß.
Dieses Spiel können sie auch bei Golls Hügel spielen
, dachte Peter, und auf einmal war er mehr als je zuvor entschlossen, sich einen von ihnen zu fangen.
Er beäugte die Männer und überlegte, wie er sich ein Kindschnappen könnte, solange sie in der Nähe waren. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass er näher heran musste, und so schlich er sich von Baum zu Baum.
Einer der Jungen kam in den Wald gerannt, sprang über einen Busch, umrundete einen Baum und stand plötzlich Peter gegenüber. Beide waren so überrascht, dass sie keine Ahnung hatten, was sie tun sollten.
Der Junge legte den Kopf schief und schaute Peter komisch an. »Bist du ein Waldgeist?«
»Nein, ich bin ein Peter.«
»Also, dann bin ich
ein
Edwin. Willst du was spielen?«
Oh ja, allerdings
, dachte Peter, nickte und grinste den Jungen breit an. Er wollte gerade nach ihm greifen, da kam das Mädchen um den Baum herum. Als sie Peters Waschbärenpelz und seine rote und lila Kriegsbemalung sah, stieß sie ein durchdringendes Kreischen aus und rannte davon.
»Edwin«, brüllte einer der Männer. »Komm sofort zurück.«
Peter hörte, wie schwere Stiefel auf ihn zutrampelten, und eilte wieder ins Unterholz.
Der Mann kam um den Baum herum und schaute finster auf den Jungen herab. »Ich hab dir doch gesagt, dass du in der Nähe bleiben sollst.« Der Mann suchte die Bäume mit Blicken ab. »Hier in diesen Hügel gibt es gefährliche Wesen. Hässliche kleine Kobolde, die in Löchern leben. Sie stehlen kleine Jungs wie dich. Und weißt du, was sie mit ihnen machen?«
Edwin schüttelte den Kopf.
»Sie kochen Suppe aus ihrer Leber und nähen Schuhe aus ihrer Haut. Jetzt komm. Wir haben noch ein gutes Stück Weg vor uns, bis es dunkel wird.«
Als Peter das Dorf erreichte, war die Sonne schon seit einiger Zeit untergegangen. Ihm taten die Füße und die Beine weh, und sein Magen knurrte. Doch er ignorierte die Protestschreieseines Körpers, weil er nur an eines denken konnte: an den
Jungen
.
Er wartete zwischen den Bäumen, bis die Männer das Vieh hereingeholt hatten und sich niemand mehr durch die Nacht bewegte außer ihm. Das Dorf bestand aus einem Dutzend Rundhäuser, die jenem Haus ähnelten, in dem er geboren worden war, und einem großen Stall. Sie waren um einen großen Platz herum errichtet. Schweine grunzten, und irgendwo aus einem Hühnerhaus kam Gegacker.
Peter schlich sich lautlos ins Dorf. Hier zwischen den Häusern fühlte er sich nackt und verletzlich. Er hatte das ungute Gefühl, dass hinter jeder Ecke die riesigen, grobschlächtigen Männer auf ihn warteten. Er zog sein Feuersteinmesser und huschte von Schatten zu Schatten, wobei er nach verräterischen Gerüchen schnüffelte und auf das kleinste Geräusch lauschte. Er rümpfte die Nase. In dem Dorf stank es nach Tieren, saurem Schweiß und menschlichen Ausscheidungen. Peter fragte sich, warum man hier leben sollte, wenn man stattdessen in den Wald gehen konnte.
Er schob sich am Haus des Jungen entlang, den Rücken dicht an der rauen Stein- und Grassodenmauer, bis er ein kleines, rundes Fenster erreichte. Drinnen schlugen mehrere Hunde an, und Peter hämmerte das Herz in der Brust. Eine tiefe, unwirsche Stimme brachte die Hunde zum Schweigen. Peter wollte durchs Fenster spähen, doch die schweren Läden waren geschlossen und fest verriegelt. Er stocherte mit dem Messer an dem Dreck zwischen den Latten herum, bis ein schmaler Lichtstrahl hindurchfiel. Peter spähte hinein.
Der Innenraum sah ziemlich genau aus wie sein Zuhause, als er noch ein Säugling gewesen war: ein großer Herd, Kessel und Töpfe, Fichtenzweige im Gebälk. Die ganze Familie saß um den Tisch, reichte Schüsseln mit Maronen und Kohl herum, und die Jungs kicherten und machten Blödsinn.
Peter atmete tief ein. Der kräftige Geruch von Räucherfleisch und geröstetem Brot brachte mit einem Mal all die Erinnerungen an seine eigene Familie zurück. Die überwältigende Sehnsucht traf ihn mit solcher Wucht, dass seine Beine nachgaben und er an der Wand herunterrutschte, bis er im Dreck saß. Er schlang die Arme um die Knie, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Er kniff fest die Lider zu, während ihm heiße Tränen über die Wangen kullerten.
»Mama«, flüsterte er. Ihr Lachen, ihr breites Lächeln, ihr süßer Duft, all das kam ihm hier so nah vor, als könnte er einfach das Haus betreten und sie dort vorfinden. Sie
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