Der Kinderdieb
die von Bäumen umgeben war. Alles war vom intensiven Sonnenlicht vergoldet. Er hob das Gesicht zum Himmel, streckte die Arme aus und badete in der Hitze.
Ein Kichern erregte seine Aufmerksamkeit. Auf der ganzen wunderschönen Wiese tanzte und tollte Feenvolk. Winzige, insektengroße Gestalten mit bunten Schmetterlingsflügeln schwebten umher und bestäubten die unzähligen bunten Blumen, die an jeder Ranke, an jedem Baum und Busch blühten. Aus dem hohen Gras erklang ein Schnauben, und Nick sah eine Herde katzengroßer Zentauren vorbeigaloppieren. Kleine weißhäutige Mädchen in fließenden Spinnwebenkleidern ritten auf ihren Rücken, sprangen umher und quietschten vor Freude. Aus den Bäumen drang das Kreischen und Krakeelen lilafarbener Affen, die sich von Ast zu Ast schwangen. Da trug die sanfte Brise einen Chor von Vogel- und Feenstimmen an Nicks Ohren.
Im Traum holte er tief Luft, füllte sich die Lungen mit dem süßen Duft der Blumen und dem würzigen Geruch der Erde. Es war alles so wunderbar, aber mit einem Mal fing er an zuschwitzen und dachte sich, dass er ein bisschen Schatten vertragen könnte. Während er sich nach einem schattigen Plätzchen umsah, wurde die Hitze unerträglich, und er begriff, dass sie nicht von der Sonne herrührte, sondern aus seinen Eingeweiden. Sein Magen verbrannte von innen. Nick sehnte sich nach Wasser, nach irgendetwas, womit er das Feuer löschen konnte. Er drückte die Hände gegen den Bauch und stöhnte, und im selben Moment kehrte Stille auf der Wiese ein. All die kleinen Geschöpfe starrten ihn an, und er bemerkte Angst in ihren Augen – Angst vor ihm.
Nick wollte nicht, dass sie sich fürchteten. Er hob die Hände, um sie zu beruhigen, und im selben Moment wurde seine Haut schwarz. Vor seinen Augen schlängelten sich dunkle Flecken über seine Arme, und schuppige, blutergussfarbene Stellen erblühten auf seinen Handrücken. Entsetzt beobachtete er, wie seine Finger sich in spitze schwarze Klauen verwandelten.
Die Wesen von der Lichtung flohen und ließen ihn allein zurück. Das machte ihn wütend, rasend. Er wollte ihnen wehtun, wollte sie jagen und sie eines nach dem anderen abschlachten.
Als Nick erwachte, hatte er die Hände gegen den Bauch gepresst. Er spürte ein Brennen im Magen, und seine Sachen waren schweißdurchtränkt. Er brauchte dringend Wasser, aber jetzt, in der Nacht, wagte er sich nicht aufs Klo, nicht, solange diese verdammten Spinnen dort waren. Also lag er wach und fragte sich, wie er nur in diesem Käfig auf einer Insel gelandet war, wo er zusammen mit Teufeln und kleinen blauen Pixies in einer Feste wohnte. Schließlich ließ das Brennen in seinen Eingeweiden nach, und kurz vor Morgengrauen schlief er wieder ein.
KAPITEL 10
Ginny Grünzahn
Nathan hockte mit den Händen vorm Gesicht auf dem Bordstein. Seit bald einer Stunde saß er so da.
Sie waren am Hafen. Die Sozialwohnungen, die Drogendealer, die Gangs, all das lag weit hinter ihnen. Der Nebel zog sich zusammen, wirbelte vor ihnen aus dem Hafenbecken empor, wartete.
Peter wollte los, zurück auf die Insel, aber er wusste, dass es keinen Sinn hatte, den Jungen unter Druck zu setzen oder ihn anzutreiben. Der nächste Schritt war nicht einfach. Nathan musste ihm wirklich folgen wollen, sonst würde er nicht überleben.
»Als ich gesagt habe, dass du mit zu mir nach Hause kommen kannst, habe ich das ernst gemeint.«
Der Junge schien ihn nicht zu hören. Sobald sie die Sozialbauten hinter sich gelassen hatten, hatte er von nichts anderem als seinem Bruder gesprochen.
»Die Feste ist wirklich cool. Sie wird dir gefallen. Da bin ich mir sicher.«
Nathan wischte sich die Nase ab, blickte aber nicht auf. »Ja, klingt gut«, brummte er. »Ich kann nirgendwo sonst hin, weißt du. Ohne Tony habe ich niemanden mehr.«
»Bald wirst du viele Freunde haben. Aber wir müssen uns beeilen, bevor der Nebel verschwindet.«
»In Ordnung, Mann. Gib mir noch eine Sekunde.« Nathan wischte sich mit einem Zipfel seines T-Shirts die Augen und stand auf. Er bemerkte den Nebel und runzelte die Stirn.»Das ist irgendwie gruselig. Bist du sicher, dass wir da lang müssen?«
»Der Nebel wird uns nach Avalon bringen, an einen magischen Ort, wo man niemals erwachsen wird und wo Erwachsene keinen Zutritt haben.«
Nathan bedachte Peter mit einem fragenden Blick. »Du bist ein komischer Typ. Weißt du das?«
»Willst du mitkommen?«, fragte Peter.
»Klar, warum nicht.«
»Aus freien
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