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Der Kinderdieb

Titel: Der Kinderdieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brom
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waren die großen Bäume voller lila Affen und umherfliegender Schmetterlingsmenschen, die er im Traum gesehen hatte? Hier gab es keine Zauberwesen, keinen einzigen Wicht. Genau genommen gab es überhaupt keine Anzeichen dafür, dass hier Leben existierte. Nicht mal ein Vogel oder ein Käfer. Die Landschaft, die sich vor ihm ausbreitete, bestand aus unfruchtbarer, rußiger Erde und den Gerippen einstmals mächtiger Bäume. Dornige Ranken schlangen sich um geborstene Stümpfe, und riesige Gestrüpphecken versperrten allerorten den Weg.
    Sie überquerten die Hügelkuppe und wanderten einen krummen, unwegsamen Pfad entlang, wobei sie immer wieder über umgestürzte Baumriesen klettern oder sich unter ihnen hindurchducken mussten. Dann und wann rissen die tiefhängenden Wolken auf, und Nick erkannte mehrere steile, zerklüftete Felswände, die jenseits des Waldes aufragten.
    Blutrippe ließ sich neben ihn zurückfallen, sodass sie gemeinsam die Nachhut bildeten. Mit seinem unheimlichen Grinsen im Gesicht schaute er Nick an.
    Dieser erwiderte das Lächeln knapp, in der Hoffnung, Blutrippe damit zufriedenzustellen. Er erinnerte Nick an jene Verrückten, die einen auf der Straße ansprechen und bei denen man schnell lernt, dass man ihnen nie in die Augen schauen darf.
    Dichter Nebel schwappte über den Pfad und ließ ihn einen Moment lang verschwinden.
    Blutrippe fing an, tiefes Geistergeheul von sich zu geben.
    »Still«, rief Sekeu von der Spitze des Trupps.
    Blutrippe hörte sofort auf, doch das verrückte Grinsen verschwand nicht eine Sekunde lang von seinem Gesicht. Ermachte den Hitlergruß in Sekeus Richtung und blinzelte Nick ironisch zu.
    Auf dem Weg fielen Nick einige Bäume auf – meistens größere –, in deren obersten Ästen noch ein wenig Grün zu sehen war. Die Neugier siegte, und er fragte Blutrippe gedämpft: »Stirbt der Wald?«
    »Mann, ganz Avalon stirbt«, antwortete Blutrippe. Er schien sich wie ein Schneekönig zu freuen, dass Nick sich mit ihm unterhalten wollte. »Sie nennen es die Geißel. Ich bin noch nicht lange hier, aber selbst ich habe gesehen, wie dieser Wald von einem wunderschönen Ort zu dieser Ödnis hier geworden ist. Jedes Mal, wenn wir Beeren suchen gehen, habe ich das Gefühl, dass wir weiter nach Norden müssen.«
    »Wie lange bist du denn schon hier?«
    »Mann, schwer zu sagen. Weißt du, die Zeit vergeht hier anders. Ich weiß, dass ich die Menschenwelt neunzehnhundertvierundsiebzig verlassen habe.«
    »Puh.«
    »Das ist noch gar nichts. Dieser Abraham hat die Menschenwelt damals beim Bürgerkrieg verlassen. Er war ein Sklave.«
    Nick schaute ungläubig zu Abraham hinüber. »Niemals.«
    »Doch, und wenn du glaubst, das wäre abgefahren, dann wart’s ab: Sekeu ist seit der Zeit der ersten Pilger hier. Sie war eine Sklavin vom Stamm der Delaware. Peter hat sie ihnen direkt unter den dicken Nasen weggeklaut. Abraham hat mir erzählt, dass es in diesem Wald von allen möglichen Zaubertieren gewimmelt hat, als er hier ankam. Sogar das kleine Volk hat hier gelebt. Mann, wenn ich mich jetzt hier umschaue, kann ich mir das nur schwer vorstellen.«
    Nick bemerkte eine Bewegung im Nebel. Ein dunkler, etwa rattengroßer Schatten huschte davon.
    »Das ist ein Finsterbold«, erklärte Blutrippe freimütig. »Nach allem, was ich gehört habe, gab es die schon immer in Avalon.Fiese kleine Blutsauger. Aber inzwischen sind sie so ziemlich das einzig Lebendige, was sich hier finden lässt. Himmel, momentan verschwinden sogar die Finsterbolde. Ohne die kleinen Feen können sie sich nur noch gegenseitig auffressen.«
    Nick verfolgte, wie ein weiteres der Geschöpfe in einen hohlen Baumstamm flüchtete. Es sah aus wie eine Spinne, war aber eher katzengroß.
Mannomann
, dachte Nick und beschloss, sich von hohlen Bäumen und Baumstümpfen fernzuhalten.
    Sie kamen an einem Dickicht aus toten Büschen vorbei, bogen ab, und dann öffnete sich ein sanft abfallendes Tal vor ihnen, in dem die Bäume spärliches braunes Laub trugen. Während sie dem Pfad folgten, veränderte die Landschaft sich langsam, und die Bäume und Büsche wurden zahlreicher. Doch sie wanderten noch eine ganze Stunde weiter, bevor Nick endlich ein wenig echtes Grün sah.
    Sie wateten durch einen breiten, trägen Bach, überquerten eine hohe braune Grasfläche, aus der hier und da eine welke Wildblume herausschaute, und traten kurz darauf in einen dichten Wald mit dicken, weit ausladenden Bäumen.
    »Das ist der Wald von Myrkvior«,

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