Der Kinderpapst
Einsiedelei auf ihn wartete, gar nicht bemerkt hatte.
»Contessa Ermilina! Was führt Euch zu mir?«
»Die Sorge um meinen Mann.«
»Grämt Ihr Euch, dass er nicht mehr das Bett mit Euch teilt? Ich
habe Euch schon wiederholt gesagt â dazu habt Ihr keinen Grund. Ihr habt Eurem
Gatten vier Söhne geboren. Der Herr hat Eure Ehe reichlich gesegnet.«
»Ach, wenn es nur das wäre. Aber es ist viel schlimmer.«
»Dann spannt mich nicht auf die Folter.«
»Mein Mann will sich von mir trennen â um sich zum Papst erheben zu
lassen!«
»Was sagt Ihr da?«
Giovanni Graziano schaute sie ungläubig an. Er hatte dieser kleinen,
gottesfürchtigen Frau, die ihm kaum bis zur Brust reichte, doch die über eine
Kraft des Glaubens und des Willens verfügte, die einem Kirchenfürsten zur Ehre
gereicht hätte, schon die Beichte abgenommen, als sie noch eine der schönsten
Frauen Roms gewesen war. Während ihre Schönheit verblüht, ihr einst tiefschwarzes
Haar ergraut und ihr Gesicht verwelkt war, hatte sie ihm all ihre Nöte
anvertraut, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Doch das einzige
Laster, dessen er sie für schuldig befand, war ihre Vorliebe für SüÃigkeiten.
Was musste diese Frau unter einem so frevelhaften Ansinnen wie dem ihres Mannes
leiden!
»Gehen wir in meine Klause, um miteinander zu beten«, sagte Giovanni
Graziano. »Nur im Gebet macht die Seele Fortschritte auf dem Weg der Erkenntnis
und lernt die Geheimnisse der Vorsehung begreifen.«
Sie betraten die Einsiedelei und knieten gemeinsam vor dem Bildnis
der Madonna nieder.
»GegrüÃet seist du, Maria, voll der Gnaden. Der Herr ist mit dir â¦Â«
Wie immer, wenn Giovanni Graziano sich in Zwiesprache mit der
Muttergottes versenkte, war es, als würden seine Gedanken Flügel bekommen, und
die Beweggründe, die Alberico dazu trieben, nach der Tiara zu greifen, traten
ihm bald so klar vor Augen, als schaue er aus den lichten Höhen des Geistes auf
den Schmutz dieser Welt herab. Der Tuskulaner war so sehr von der Macht besessen,
dass er dafür bereit war, das Wertvollste zu opfern, das er besaÃ: seine
unsterbliche Seele.
»Du bist gebenedeit unter den Weibern, und gebenedeit ist die Frucht
deines Leibes â¦Â«
Während Giovanni Graziano die geliebten Worte sprach, empfahl er
Alberico der himmlischen Fürsorge. Wie konnte ein Mann, der eine so fromme und
gottesfürchtige Frau zum Weibe hatte, den falschen Verlockungen der Welt so
abgrundtief verfallen?
»Seht Ihr auch, was ich sehe, ehrwürdiger Vater?«, fragte plötzlich
Ermilina an seiner Seite.
Giovanni Graziano unterbrach sein Gebet und drehte sich zu ihr
herum.
»Das Bild«, flüsterte sie. »Seht doch â das Bild!«
Er richtete seinen Blick wieder auf das Gemälde. Tatsächlich, jetzt
sah er, was die Contessa meinte. Das Antlitz der Jungfrau schien zu leuchten,
so hell und licht, als strahle die Sonne selbst daraus hervor, und obwohl seine
Augen doch stumpf und blöd waren für die Farben der Welt, erröteten ihre
Wangen.
»Wie kann das sein?«
»Gott hat sich uns offenbart«, flüsterte Ermilina.
Giovanni Graziano schaute sie verständnislos an. Das Licht, das er
sah, war womöglich nur ein Spiel der Sonnenstrahlen mit den Schatten, die sie
warfen. Wie sollte er das mit seinen trüben Augen unterscheiden?
»Das Jesuskind«, sagte sie. »Strengt Eure Sinne an.«
Er starrte auf das Bild. »Ich ⦠ich kann nichts erkennen.«
Wie ein junges Mädchen sprang Ermilina auf und zeigte auf das
Gesicht. »Diese Stirn, dieser Mund, diese Wangen â was für eine unglaubliche
Ãhnlichkeit!«
Giovanni Graziano runzelte die Brauen, und seine Augen verengten
sich zu zwei Schlitzen, um den undeutlichen Nebel zu durchdringen.
Endlich erhellte ihn der Funke des Begreifens.
»Ihr habt Recht«, bestätigte er. »Es ⦠es sind seine Züge.«
Im Gesicht des Knaben, den die Jungfrau auf dem Arm hielt, schaute
Giovanni Graziano das Wunder. Jesus Christus, Teofilo â ihre Gesichter waren
einander so ähnlich wie Zwillinge ⦠Tränen füllten seine alten Augen, und es
ergriff ihn ein Hochgefühl, wie er es seit dem Tag nicht mehr empfunden hatte,
als der Herr sich ihm zum ersten Mal zeigte, um ihn auf den Pfad des Heils zu
führen.
»Das Zeichen, auf das wir
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