Der Kinderpapst
seinen heiÃen Atem spürte. Was sollte
sie tun, wenn es angriff? Sie versuchte, sich ganz klein zu machen. Doch statt
anzugreifen, stieà das Wesen einen Seufzer aus, der wie ein menschlicher
Seufzer klang, und trat dabei auf der Stelle, zögernd, fast ängstlich, mit
Bewegungen, die weder die eines Tieres noch die eines Menschen waren, und streckte
einen Arm nach ihr aus.
»Hab keine Angst â¦Â«
Ein Schauer lief Chiara über den Rücken. Träumte sie, oder täuschten
sie ihre Sinne? Sie kannte diese Stimme, sie war ihr so vertraut wie ihre
eigene, unzählige Male hatte sie sie schon gehört.
»Hab keine Angst â¦Â«, sagte die Stimme noch einmal. »Ich war ein
Mensch, genau wie du â¦Â«
Chiara nahm ihren ganzen Mut zusammen und schaute dem Ungeheuer ins
Gesicht.
Als ihre Blicke sich trafen, erlosch das rote Glühen und sie sah in
zwei grüne Augen.
Nein, sie hatte sich nicht getäuscht. Sie kannte diese Augen, genauso
wie sie die Stimme kannte.
»Teofilo â du?«
Statt eine Antwort zu geben, nickte er stumm mit dem Kopf.
»Mein Gott«, flüsterte sie. »Was ⦠was tust du hier?«
»Ich verbüÃe meine Strafe«, sagte er. »Für meine Sünden.«
»Hier? Auf der StraÃe nach Grottaferrata?«
»Das ist keine StraÃe. Der Weg führt nirgendwohin. Er hat keinen
Anfang und kein Ende.«
»Keinen Anfang und kein Ende?«, wiederholte Chiara. »Aber ⦠aber das
ist doch die Ewigkeit, und die gibt es nur im Himmel.«
»Und in der Hölle«, erwiderte Teofilo.
Chiara schlug ein Kreuzzeichen.
»Ja, das hier ist die Hölle«, sagte er. »Und hier muss ich bleiben,
so lange, bis â¦Â«
Er verstummte.
»So lange, bis was?«, fragte Chiara leise.
»So lange, bis jemand mich befreit.« Tränen rannen aus seinen Augen.
»Chiara â¦Â«, flüsterte er. »Chiara â¦Â«
Sie wollte ihm etwas Tröstendes sagen, ihn berühren, ihn in den Arm
nehmen. Doch sie schaffte es nicht, auch nur einen Schritt in seine Richtung zu
tun. Als würden unsichtbare Kräfte sie binden, kam sie nicht von der Stelle.
»Teofilo â¦Â«
Während sie verzweifelt versuchte, sich aus dem Bann zu lösen, um
irgendwas für ihn zu tun, gaben die Wolken plötzlich den Mond frei, und in dem
silbrigen Licht erkannte sie die StraÃe.
Mein Gott! Sie war in die falsche Richtung gelaufen! Die StraÃe, auf
der sie wie angewurzelt stand und nicht vom Fleck kam, war die StraÃe, auf der
die Flaschen und Räder bergauf rollten.
»Da, da, da!«
»Nicchino!«
Mit einem Schrei fuhr Chiara in die Höhe. Ihr Herz raste, und sie
war nass von SchweiÃ.
Als sie die Augen aufschlug, sah sie in das Gesicht ihres Kindes.
Nicchino hatte sich in seinem Körbchen aufgerichtet und zeigte mit dem Finger
auf das Fenster, durch das die gelbe Scheibe des Mondes schien.
»Da, da, da!«
Endlich begriff sie, dass sie in ihrer Schlafkammer war und nur
geträumt hatte.
»Mein Liebling! Mein süÃer kleiner Schatz!«
Erleichtert sprang sie aus dem Bett und hob ihr Kind aus dem
Körbchen, um es an sich zu drücken.
»Mama«, brabbelte Nicchino und streckte ihr seine Ãrmchen entgegen.
»Maaammmaaa.«
29
Seit dem frühen Morgen strömten die Römer auf den Petersplatz,
um dem Schauspiel beizuwohnen, das ihnen für diesen Tag versprochen worden war:
ein Fest der himmlischen und irdischen Gerechtigkeit. Während rund um das
Blutgerüst Gaukler und Bärenführer, Jongleure und Wunderheiler, Seiltänzer und
Musikanten ihre Kunststücke darboten, drängten die Gaffer sich bis in die angrenzenden
StraÃen hinein, stritten sich in Türen und Fenstern um die Plätze, kletterten
auf Mauern und Dächer und Bäume und verrenkten sich die Hälse, um die Ankunft
der beiden Verurteilten nicht zu verpassen.
»Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel
mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. Und alle
Völker wird er zusammenrufen, und er wird sie voneinander scheiden, wie der
Hirte die Schafe von den Böcken scheidet.«
Die Worte des Matthäus-Evangeliums auf den Lippen, verlieà Petrus da
Silva den vergitterten Karren, in dem man ihn von der Engelsburg zur
Richtstätte gebracht hatte. Die ganze Nacht hatte er im Gebet verbracht. Jetzt
war er
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