Der Kinderpapst
höllischer Fahrt ging es hinunter
ins Tal. Chiara musste sich festhalten, um sich in dem auf und nieder
springenden Karren nicht zu verletzen. Doch was waren die Erschütterungen ihres
Leibes gegen die Erschütterungen ihrer Seele? Abt Bartolomeo wäre es beinahe
gelungen, sie schwankend zu machen. Aber ihr Kind hatte sie davor bewahrt,
seinen Einflüsterungen zu erliegen. Nicchino hatte sie zur Vernunft gebracht.
»Gelobt sei Jesus Christus!«
Dankbar wollte sie ihr Kind an sich drücken. Doch das Bündel auf
ihrem Arm war leer.
Um Gottes willen â wo war Nicchino?
»Hüh, ihr lahmen Gäule! Hüh!«
Während der Karren durch die Nacht raste, glaubte Chiara den
Verstand zu verlieren. Im flackernden Schein einer Kerze, die das Wageninnere
beschien, wühlte sie zwischen Decken und Tüchern, tastete die Bank ab, den
Boden, die Polster rings umher. Doch keine Spur von ihrem Sohn.
»Heilige Mutter Gottes, bitte hilf!«
Plötzlich ein Krachen und Poltern, der Wagen schwankte nach links,
nach rechts, dann bockte er wie ein störrischer Esel, und auf einmal war alles
still. Nur das Wiehern und Stampfen der Pferde war zu hören.
Chiara sprang aus dem Karren.
»Deine Lampe!«, rief sie dem Wagenlenker zu.
»Die brauche ich selber!« Der Mann war bereits vom Bock geklettert
und begutachtete den Schaden. »Ein Rad ist gebrochen.«
»Egal!« Chiara riss ihm die Lampe aus der Hand und leuchtete in das
Innere des Karrens. »Nicchino! Nicchino?« Sie hob das Licht in die Höhe,
schwenkte es hin und her, aber wohin sie auch blickte, überall gähnte ihr nur schwarze
Leere entgegen.
»Bis Albano ist es nicht weit«, sagte der Wagenlenker. »Das schaffen
wir zu FuÃ, um Mitternacht sind wir da.«
»Bist du verrückt?«, erwiderte Chiara. »Ich kann nicht fort von
hier, nicht ohne mein Kind!«
Der Mann schaute sie verwundert an. »Euer was ?«
»Mein Kind!«, schrie sie. »Los, geh schon! Lauf nach Albano! Hol die
Leute aus den Betten und bring sie her! Sie sollen helfen, mein Kind suchen!«
Er zögerte immer noch. »Aber ⦠aber Ihr habt doch gar kein Kind,
Herrin.«
»Was sagst du da?« Ohne seine Antwort abzuwarten, kehrte sie ihm den
Rücken zu und leuchtete wieder in den Wagen. »Nicchino! Nicchino! Bitte! Sag
endlich was! Deine Mama hat solche Angst!«
Wieder antwortete ihr nur dunkles, leeres Schweigen. Plötzlich kam
ihr ein Gedanke. War er während der Fahrt aus dem Karren gefallen? Ein kurzer,
unaufmerksamer Moment, in einer Kurve oder bei einem Schlagloch, in dem er
durch die Holzstangen hindurchgerutscht war? Sie schloss die Augen. Ja, so
musste es gewesen sein, ein kurzer unaufmerksamer Moment, wie konnte ihr Kind
sonst verschwinden ⦠Die Vorstellung, dass Nicchino jetzt irgendwo am Wegrand
lag, mutterseelenallein in finsterer Nacht, machte sie wahnsinnig.
»Warte, mein Liebling! Mama holt dich!«
Aus welcher Richtung waren sie gekommen? Mit der Lampe in der Hand,
stolperte Chiara die StraÃe zurück. Sie war noch keinen Steinwurf weit, da
strauchelte sie über eine Baumwurzel. Im selben Moment erlosch das Licht. Sie
lieà die Lampe zurück und lief weiter. In der Dunkelheit konnte sie kaum etwas
sehen, doch sie hatte das Gefühl, dass der Weg steil bergauf ging, ihre Beine
wurden schwerer und schwerer, und bald schon rang sie nach Luft.
Auf einmal hörte sie ein Geräusch, ganz in der Nähe, ein leises
Rascheln und Knacken. Sie verharrte, und während das Herz ihr bis zum Hals
klopfte, starrte sie mit aufgerissenen Augen in die Finsternis.
»Nicchino ⦠Nicchino ⦠Wo bist du?«
Da brach aus dem Unterholz eine Gestalt hervor, ein mannsgroÃes
Wesen, ein zotteliges, pelziges Ungeheuer.
Vor Schreck wich Chiara zurück.
Was war das? Ein Mensch? Ein Tier? Ein Geist?
Zwei rot glühende Augen schauten sie an, und während es ihr vor
Angst in den Ohren rauschte, hörte sie ein bedrohliches Brummen und Fauchen.
Mit tapsigen, schleppenden Schritten kam das Wesen auf sie zu. Sie wollte
davonlaufen, aber sie war wie gelähmt, sie konnte die FüÃe nicht heben, schwer
wie Blei waren ihre Beine. Am ganzen Körper zitternd, starrte sie auf das rote
Glühen.
»Vater unser, der du bist im Himmel â¦Â«
Das Ungeheuer war nur noch eine Armeslänge entfernt, da blieb es vor
ihr stehen. Es war so nah, dass Chiara
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