Der Kinderpapst
der Erbsünde befreien können. Darum weigerte er sich jetzt,
den Leichnam in der Kirche an der Seite seiner Mutter aufzubahren. Chiara hatte
das kleine, leblose Bündel mit Gewalt dem Küster entrissen, der schon auf dem
Weg gewesen war, es irgendwo im Wald zu verscharren, ohne Segen und Kreuz.
»Das ist für Euch«, sagte sie und gab dem Pfarrer eine Münze. Jeder
in der Gemeinde wusste, dass Don Abbondio eine Menge Mäuler zu stopfen hatte.
Seine Magd hatte fünf Kinder von ihm.
Unschlüssig schielte er auf das Geld in seiner Hand. »Verlangt Ihr,
dass ich dafür meine Augen vor der Sünde verschlieÃe?«
»Ich gehe voraus und sorge dafür, dass Eure Augen keinen Schaden
nehmen.«
Mit Francescas totem Sohn auf dem Arm, betrat Chiara die Kirche. Die
Trauernden hielten in ihren Gebeten inne und drehten verstört die Köpfe herum.
Ohne sich um die Blicke zu kümmern, beugte Chiara sich über das Totenbrett und
bettete den Leichnam des Kindes an die Seite seiner Mutter. Als sie die zwei
Leiber mit dem Grabtuch bedeckte, damit Don Abbondio keinen Anstoà nahm, war
es, als würde ein Lächeln über Francescas bleiches, wächsernes Gesicht huschen.
»Danke«, flüsterte Anna. »Das werde ich Euch nie vergessen.«
Chiara erwiderte den Druck ihrer Hand. Ein Messdiener klingelte, und
aus der Sakristei trat der Pfarrer hervor, um mit der Begräbnisfeier zu
beginnen. Während er an die Auferstehung der Toten erinnerte sowie an die
fortdauernde Gemeinschaft der lebenden und verstorbenen Christgläubigen,
flatterte eine Schwarzdrossel in den Altarraum. Sie kreiste einmal über dem
Totenbrett, dann hockte sie sich auf den Altar und putzte sich mit ihrem gelben
Schnabel das Gefieder, bis die Totengräber kamen und die Gemeinde die Kirche
verlieÃ. Die Drossel begleitete den Zug hinaus auf den Friedhof, und erst als
das Grabtuch mit den zwei Leichnamen in die Gruft hinabgelassen wurde, setzte
sie sich auf einen Zweig.
»Der ewige und barmherzige Gott wolle dich durch seine Engel
geleiten in das Reich, da seine Auserwählten ihn ewiglich preisen.«
Als der Pfarrer den Segen sprach, begann die Drossel zu singen.
Chiara musste weinen. Doch weshalb? Weil sie beim Gesang des Vogels an
Francesca und ihr Kind dachte, deren Seelen jetzt in den Himmel aufstiegen?
Oder weil sie immer noch eine Liebe in ihrem Herzen spürte, die zu ersticken
Gott ihr befohlen hatte?
Plötzlich schämte sie sich für die Gefühle, die sie am Grab einer
Mutter und eines Kindes empfand, das dermaleinst mit ihrem eigenen Kind hatte
spielen sollen. Mit beiden Armen verscheuchte sie die Drossel. Während der
Vogel im Himmel verschwand, trat sie an das Grab, griff in die frische Erde,
die dort aufgehäuft war, und warf eine Handvoll in die Gruft.
»Dein Wille geschehe«, flüsterte Chiara, »wie im Himmel so auf
Erden.«
Während sie den Erdwurf zweimal wiederholte, betete sie zu Gott,
dass er ihr ein Kind schenken möge. Als Zeichen, dass sie zu ihrem Mann gehörte
und ihre Zweifel ein Ende hatten.
15
Ganz Rom strömte am Aposteltag des Jahres 1037 zum Hochamt in
den Petersdom, um an der Fürbittmesse teilzunehmen, mit der Papst Benedikt nach
langer, langer Zeit des Elends und der Not das Schicksal der Stadt wenden
würde. Das jedenfalls hatten die Priester von den Kanzeln der Kirchen
verkündet, auf Anweisung Petrus da Silvas. In freudig gespannter Erwartung
fieberten nun die Römer der Messe wie ihrer Erlösung entgegen. Nur einige Kleingläubige
meinten auf dem Weg zum Gotteshaus Anzeichen drohenden Unheils zu erkennen:
schlaflose Nachtvögel, die sich wundersamerweise mit dunklen Schwingen in den
blauen Himmel erhoben, aufgeregt wiehernde Pferde, die vor unsichtbaren Hindernissen
scheuten, oder herrenlose Hunde, die wie bei einem aufziehenden Gewitter die
Bäume anjaulten, als drohe von irgendwoher eine Gefahr, die nur ihnen spürbar
war, den Menschen aber verborgen.
Woher rührte die Unruhe der vernunftlosen Viecher? War die Ursache
etwa der Mond, der bei helllichtem Tage seine Bahn von Westen nach Osten zog?
Oder war es die Erregung unter den Menschen, die sich auf die Tiere übertrug?
In riesigen Trauben drängten die Gläubigen sich auf dem Vorplatz der
Basilika, vor deren Portal Soldaten des Stadtregiments unter Aufsicht ihres
Kommandanten Gregorio di Tusculo alle männlichen Besucher des
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