Der Kinderpapst
Lüge, sein Stellvertreter ein Schauspieler! Die Prozession,
das Weihwasser, der Leib und das Blut Christi â alles ein einziger widerlicher
Mummenschanz!
Als er die Augen wieder aufschlug, zuckte er zusammen. In der Menge
sah er, an einem Stand mit Kruzifixen und Reliquien, das Gesicht einer Frau.
»Chiara!«
Als sie den Kopf hob, verschwanden all die Menschen rings umher, das
Rufen und Glockenläuten verstummte, genauso wie der Singsang der Gebete.
Für einen Moment gab es nur sie zwei, Chiara und ihn.
Da zerriss ein Schrei die Stille.
»Nieder mit dem Papst!«
Teofilo fuhr herum.
»Nieder mit dem Falschmünzer!«
»Nieder mit dem Hurenbock!«
Während das Geschrei immer lauter wurde, verrenkte Teofilo sich den
Hals. Wo war Chiara geblieben?
An ihrer Stelle sah er einen Mann in einem roten Umhang und einer
schwarzen Fellmütze: Severo, der Sabiner! Mit beiden Armen rudernd, hetzte er
das Volk gegen ihn auf.
»Nieder mit dem Papst!«
»Nieder mit dem Falschmünzer!«
»Nieder mit dem Hurenbock!«
Plötzlich wogte der Thron wie ein kenterndes Schiff, und Teofilo
musste sich mit beiden Händen festhalten, um nicht herunterzufallen. Was hatte
das zu bedeuten? Eine Horde junger Ritter und Knappen stürzte auf ihn zu.
Angeführt von dem Sabiner, drohten sie mit den Fäusten, zückten Schwerter und
Dolche und hörten nicht auf zu schreien.
»Nieder mit dem Papst!«
»Nieder mit dem Falschmünzer!«
»Nieder mit dem Hurenbock!«
Während Teofilo sich an die Armlehnen klammerte, sah er in die
Gesichter der Angreifer, dieselben Gesichter wie damals, bei der Fürbittmesse
zum Fest der Apostel Peter und Paul â Gesichter voller Hass und Wut.
11
Im nächsten Augenblick brach die Hölle los. Als hätte sich ein
Vulkan entladen, verwandelte sich der Platz vor der Basilika in ein einziges
brodelndes Schlachtfeld, bis in die Gassen und StraÃen rund um den Dom hinein.
Pilger und Händler, Bauern und Prediger, Ritter und Handwerker, Diakone und
Knappen, Krämer und Mönche fielen übereinander her, ohne dass jemand wusste,
weshalb und warum. Kreischend vor Angst versuchten Frauen und Kinder dem
Getümmel zu entkommen. Messer blitzten auf, Klingen schlugen aufeinander,
Greise wurden über den Haufen gerannt und strauchelten zu Boden, während die
Glocken unablässig zur Messe läuteten.
»Vorsicht!«, rief Giulia.
Chiara konnte gerade noch beiseitespringen, als ein herrenloser
Leiterwagen wie ein Geschoss auf ihren Stand zuraste. Im nächsten Moment brach
das Gestell in sich zusammen, und all die Kruzifixe, Kreuze und Bilder
prasselten zu Boden.
»Das Geld!« Wie aus dem Nichts war Anna plötzlich da. »Wir müssen
die Kasse finden!«
Während Anna und Giulia die Trümmer des Stands durchsuchten, sah
Chiara in der Ferne, wie Teofilo auf seinem Thron über dem wogenden
Menschenmeer hin und her schwankte. Dutzende von Angreifern bestürmten das
Gestühl, so viele, dass es den Soldaten des Stadtregiments kaum gelang, sie
abzuwehren.
»Nieder mit dem Papst!«
»Nieder mit dem Falschmünzer!«
Das Geschrei erfüllte Chiara mit bitterer Genugtuung. War das
endlich die Strafe? Die Strafe für all die Verbrechen, die Teofilo begangen
hatte?
»Nieder mit dem Papst!«
»Nieder mit dem Hurenbock!«
Während sie in die Rufe einfiel, erblickte sie in der Menge
plötzlich den Mann, der auf sie gezeigt hatte. Mit einer Streitaxt in der Hand,
brach er durch den Ring der Verteidiger, direkt auf Teofilo zu.
»Nein!«
Ganz von allein war ihr der Schrei entwichen. Auf einmal hatte sie
Angst. Die Soldaten versuchten, die Reihen um den Thron zu schlieÃen. Doch
immer mehr Angreifer drangen durch die Lücken der Abwehr, wie Wasser durch die
Ritzen eines brüchigen Damms. Da erkannte sie den Mann. Um Himmels willen, wenn
der Sabinergraf und seine Leute Teofilo erwischten, sie würden ihn in Stücke
reiÃen ⦠Der Thron schoss in die Höhe wie ein Katapult, für einen Moment schien
er über allen Köpfen zu schweben, um sich dann wie ein Kreisel in der Luft zu
drehen.
»Weg hier!« Anna versuchte, sie fortzuziehen.
»Aber sie bringen ihn um!«
»Er hat es nicht anders verdient! Komm! Oder willst du, dass sie uns
auch umbringen?«
»Wir müssen ihm helfen!«
»Bist du verrückt?«
Chiara riss sich von Anna los.
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