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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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begeistert von seiner Rede und seinen Argumenten, und stellte ihn sich nackt vor. Die ganze Szenerie erschien ihr plötzlich so albern, dass sie lächeln musste, was Harald als Arroganz interpretierte.
    Als er hei seinen philosophischen Abhandlungen zu dem Punkt kam, dass das Leben eben nicht vorausberechenbar sei und nicht der Mensch an sich, sondern nur seine Gefühle wirklich frei seien, stellte sie ihn sich immer noch nackt vor, aber diesmal aus der Pamela-Perspektive, und da spürte sie, wie der Schmerz zurückkam. Das Absurde der ganzen Situation wurde ihr auf einmal bewusst. Harald hatte die Schuldfrage völlig auf den Kopf gestellt und fühlte sich sauwohl in der Rolle des Richters. Sie musste sich Vorträge und Vorwürfe anhören, weil sie ein Saxofon gewässert hatte, was dem vorausgegangen war, schien nicht nur unwichtig, sondern bereits vergessen.
    Als er dabei war, Anne zu erklären, dass sich niemand dem Verlangen widersetzen und einem sehnsüchtigen Blick widerstehen könne, unterbrach sie ihn mit der profanen Frage: »Warum schläfst du mit einer Frau, die so erotisch ist wie eine orthopädische Sandale?«
    Harald starrte sie an, als hätte sie ihm ein Messer in den Bauch gestoßen. Die Welle seiner psychologischen Erkenntnisse versandete abrupt.
    »Findest du?«, fragte er, und klang wie ein verunsichertes Kind, dem man sagt: »Dein Pony steht dir nicht.«
    »Das findet wahrscheinlich jeder im Dorf«, antwortete Anne kühl, »und die Frage ist, wer sich hier wirklich lächerlich macht.«
    Harald verstummte wie ein bemitleidenswerter Schauspieler, der den Text seines Monologes vergessen hat und wie ein geprügelter Hund die Bühne verlässt.
    Anne wollte ihn verletzen, und das war ihr gelungen. Sie sprachen nicht mehr darüber, sie redeten über gar nichts mehr. Sie begrüßten sich nicht, sie verabschiedeten sich nicht, und sie fassten sich nicht mehr an. Anne schlief auf der Couch im Gästezimmer, und er ging ab und zu zu Pamela. Anne verstand die Welt nicht mehr. Sie hatte immer geglaubt, eine Frau, die ihr gefährlich werden könnte, müsste mindestens jünger, schöner, schlanker, klüger und fröhlicher sein.
    Aber sie war felsenfest davon überzeugt, ihn zurückzugewinnen. Wenn er das Schweigen satt hatte und den braven Null-achtfünfzehn-Mauerblümchen-Sex. So tat sie die ganze Affäre als vorübergehende Phase ab, da seine Arzthände von Natur aus eben auch eine sehr mitleidige Ader hatten.
    Erst als sie die erste Hindemith-CD in ihrem Schrank entdeckte, bekam sie Angst, ihn für immer zu verlieren.
    Anne ging auf Kai zu. Kai hauchte ihr einen Luftkuss neben die rechte Wange.
    »Schön, dich zu sehen. Ich kenne nur ein paar Schritte weiter eine angenehme kleine Bar, in der man sogar sitzen kann ...«
    »Okay, gehen wir.« Annes Herz klopfte, als sie ihn ansah. Er gibt mir das Gefühl, wieder Anfang zwanzig zu sein, dachte sie, und das ist nicht das Schlechteste, was einem passieren kann.
    In der Bar bestellten sie beide einen Campari und prosteten sich
    »Worauf trinken wir?«, fragte Kai. »Auf Valle Coronata?«
    »Na klar«, grinste Anne. »Ich bin zu 99 Prozent immer noch wild entschlossen, es zu kaufen.«
    »Wieso 99 Prozent? Gibt es noch irgendwo ein Problem? Mit der Finanzierung?«
    Anne schüttelte den Kopf. »Nein, nicht mit der Finanzierung. Ich war heute Vormittag bei Enrico, und er hat mir angeboten, ein paar Tage in Valle Coronata zu wohnen. Ich bin sicher, es wird wundervoll, das eine Prozent halte ich mir nur offen für den Fall, dass mir der Wald bereits nach drei Tagen auf den Kopf fällt.«
    Kai runzelte die Stirn, und seine Augen sahen aus, als würden sie in der Mitte zusammenwachsen. »Das heißt, du willst mit ..., du willst ein paar Tage bei Enrico wohnen? Bei diesem Spinner? Verdammt noch mal, du kennst ihn doch gar nicht!«
    »Claubst du, er wird mich fressen?«
    Kai versuchte zu scherzen. »Nein, wahrscheinlich nicht, bevor du bezahlt hast. Aber ...«
    »Was >aber    »Ich weiß nicht. Er ist furchtbar nett, aber er ist ein komischer Kauz. Ich kann ihn nicht einordnen. Er ist ein Aussteiger, ein Fantast, und sicher hat er irgendwie auch was aufm Kasten, aber ...«, er machte eine Pause und starrte in die Ferne. »Ach verdammt, ich kann es nicht erklären. Wahrscheinlich ist es die beste Methode, das Haus kennen zu lernen, da hast du Recht ...«
    Er sah sie an und nahm ihre Hand. Anne zuckte unmerklich, weil sie darauf nicht gefasst war, aber sie ließ sie ihm.

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