Der Kindersammler
sterben. Vielleicht hatte sie ja auch Recht. Denn Carla hat noch Angst vor dem Tod — ich habe das längst hinter mir.«
»Kannst du segeln?«
»Nein. Oder sagen wir besser: Ich habe es noch nie ausprobiert. Aber es gibt Bücher. Und wenn man sich mental damit auseinander setzt, geht alles. Der Wind ist eine berechenbare Größe. Ebenso das Wasser. Kraft — Schwung — Geschwindigkeit — Masse — alles ist kalkulierbar. Und somit reduziert sich die Gefahr.«
Anne verstand nur zu gut, warum sich Carla geweigert hatte, mit Enrico auf ein Boot zu gehen. Wenn er kein erfahrener Segler war, hätte sie das auch nicht getan.
»Und Carla hatte außerdem ein Problem damit, ihren Job sausen zu lassen, weil sie erst ein halbes Jahr vorher die Leitung eines Kindergartens übernommen hatte. Angeblich machte ihr die Arbeit Spaß, aber ich konnte gut sehen, dass sie hoffnungslos überfordert war, und ich wollte sie da unbedingt rausholen. Ich habe für sie die Dienstpläne und die Kalkulationen gemacht, ich hab Sparpläne für die Küche errechnet und ihr Handwerker beschafft, die die Kita neu gestrichen und zum halben Preis neuen Teppichboden verlegt haben. Ich baute pädagogisches Holzspielzeug, damit sie kein neues kaufen musste, beaufsichtigte die Kinder auf dem Erlebnisspielplatz und bin sogar als Betreuer auf eine kleine Reise ins Fichtelgebirge mitgefahren. Unentgeltlich natürlich. Ich hätte alles für sie getan, aber es hatte keinen Zweck. Sie war für diesen verantwortungsvollen Job nicht geschaffen. Sie war zu weich, zu mitfühlend. Wenn sich ein Kind das Knie aufschlug, weinte sie mehr als das Kind und vergaß in ihrer Panik die Telefonnummer der Feuerwehr. Ich konnte das nicht mit ansehen. Ich redete ihr gut zu. Immer wieder. Und schließlich kündigte sie auch.«
Enrico schenkte sich aus einer Korbflasche ein Glas Wein ein und trank es in einem Zug aus, während Anne immer noch eisern an ihrem Wein nur nippte. Enricos Gesicht war mittlerweile flammend rot.
Und dann habe ich einen alten Bus gekauft und ihn ausgebaut. Eine klein e Küche, einen ausklappbaren Tisch, zwei Stühle, eine Matratze, ein Schränkchen — das war alles. Es reichte für unsere ganze Habe. Ich wollte um die Welt. Wenn nicht mit einem Boot und auf dem Wasser, dann eben mit einem Bus auf der Straße.«
Obwohl Enrico den Wein getrunken hatte, waren seine Lippen völlig ausgetrocknet. Klebriger Speichel klebte in seinen Mundwinkeln. Anne musste immer wieder hinsehen, und es störte sie gewaltig. Dieser schöne, ausdrucksstarke Mann—und dann so etwas Banales. So etwas banal Ekelhaftes.
»Das ist unglaublich«, sagte sie. »Das wäre auch mein Traum. Einfach losfahren. Sich treiben lassen. Nicht wissen, was einen erwartet. Die Welt sehen.«
»Dann tu es«, sagte Enrico. »Fahr los und versteck dich nicht hier in diesem Tal.«
»Warum hast du dich denn dann letztendlich in diesem Tal versteckt?«, konterte Anne schnell, um zu vermeiden, dass Enrico fragte, was sie hier überhaupt suchte. Sie wollte nicht über Felix reden. Nicht heute Abend. Vielleicht später.
»Der alte klapprige Bus ist hier in der Toscana verreckt. Oberhalb Duddova, auf einem Platz, auf dem Holz gelagert wurde. Wir kamen nicht weiter. Beim besten Willen nicht. Ich habe alles versucht aber er fuhr keinen Meter mehr. Nicht mal bis zur Werkstatt in Ambra. Und dann bin ich bei einem Spaziergang auf Valle Coronata mit einer seit dreißig Jahren zugewucherten Ruine gestoßen und hatte plötzlich das Gefühl, dass hier meine Aufgabe ist. Dass es meine
Bestimmung sein könnte, die Mühle wieder aufzubauen und zu beleben. Hier zu leben. An der Quelle Im Wald. Am Ursprung des Lebens.«
»Wann war das? Ich meine, seit wann bist du hier?«
»Seit dreizehn Jahren. Ich habe erst Wie Coronata und dann auch andere Ruinen aufgekauft und renoviert.«
Dreizehn Jahre, dachte Anne. Dann war er also schon hier, als Felix verschwand. Und La Pecora ist nicht weit. Zu Fuß vielleicht eine Dreiviertelstunde. Gar kein Problem. Vielleicht hatte er irgendetwas gehört, irgendetwas gesehen, vielleicht hatten ihm die Leute im Dorf irgendetwas erzählt, auf dem Markt wird viel geredet ..., vielleicht hatte er etwas erfahren, das ihm damals nicht wichtig erschien, aber jetzt wieder einfiel. Vielleicht zu einem Zeitpunkt, als sie und Harald schon längst wieder in Deutschland waren. Enrico war ein Anhaltspunkt. Ein guter Anfang, aber sie wollte noch ein bisschen warten, bevor sie von Felix
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