Der Kindersammler
»Aber ich bin froh, dass ich weiß, wo du bist. Wann fährst du hin?«
»Wenn wir unseren Campari ausgetrunken haben.«
Kai konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. »Ich dachte, wir machen einen klein en Bummel durch die Stadt, klettern vielleicht auf den Torre del Mangia, genießen einen wunderschönen Sonnenuntergang aus luftiger Höhe, hoch über den Dächern der Stadt, und dann lade ich dich im romantischsten Restaurant Sienas zum Abendessen ein ...«
Anne seufzte. »Das klingt sehr verführerisch, und ich hätte große Lust dazu ..., aber was soll ich denn machen? Ich habe Enrico gesagt, dass ich heute Abend wiederkomme. Er wird auf mich warten. Und ich kann ihn doch nicht anrufen und sagen dass ich erst morgen Vormittag komme! Ich würde es tun, aber es geht ja nicht!«
Kai bestellte noch zwei Campari. »Was willst du in Valle Coronala tun, wenn du es gekauft hast? Gibt es ein Geheimnis? Suchst du ein Versteck? Erzähl es mir!«
»Frag mich noch einmal, was ich dort tun werde, wenn ich ein paar Tage da war. Dann werde ich es wissen.«
»Und mir meine Frage beantworten?«
»Ja.«
»Versprochen?«
»Versprochen.«
»Nimm dir eine dicke Jacke mit. Es ist feucht und kühl im Tal. Dort hast du mindestens sieben Grad weniger als auf dem Berg und zehn Grad weniger als in der Stadt.«
Anne nickte und lächelte. »Okay. Aber jetzt gehe ich, sonst gibst du mir noch so viele gute Ratschläge, dass ich mir eine Finca auf Mallorca kaufe.« Sie stand auf. »Danke für den Campari.«
Kai stand ebenfalls auf und umarmte sie. »Wir sehen uns spätestens in drei Tagen.«
Anne nickte und ging.
Als sie in der Via Santa Caterina in ihren Wagen stieg, war ihr ziemlich mulmig zumute, und dieses Gefühl ließ sich auch nicht verdrängen, als sie das Radio anschaltete und ihr Lieblingslied »Melodramma« von Andrea Bocelli hörte:
»E questo cuore canta un dolce melodramma, l'inno dell'amor che cantero per te, e un melodramma che, che canto senza te.«
Erneut keimte die Sehnsucht in ihr auf, und das Lied unterstrich noch ihr Cefühl, wieder eine wunderbare Chance vertan zu haben, sich endlich in Kais Armen völlig fallen zu lassen.
In der Küche brannte kein Licht, aber Enrico hatte ausnahmsweise zwei Kerzen auf dem Tisch, zwei auf der Arbeitsplatte und ein Teelicht auf dem schwankenden Regal aufgestellt. Anne faszinierte nicht nur die romantische Atmosphäre, sondern auch Enricos Haltung, zwar Strom zu haben, ihn aber nicht zu benutzen.
»Erzähl mir von dir«, bat Anne. Auf dem Herd kochten die Artischocken, Enrico verfeinerte die Pestosoße mit Sahne und zupfte die Rucolablättchen mit Engelsgeduld und solcher Hingabe, als kenne er jeden Stängel persönlich. Anne fand es beruhigend, ihm dabei zuzusehen, und genoss es, selbst nichts tun zu müssen. Sie zwang sich, immer wieder zum Wasserglas zu greifen und am Rotwein nur zu nippen, um nicht zu schnell müde zu werden.
»Von mir gibt's nichts Interessantes zu erzählen«, meinte Enrico ausweichend.
Anne lächelte. »Das glaub ich dir nicht. Du hast eine ungewöhnliche Art zu leben ... und bis hierher, bis man in diesem Tal landet, muss schon einiges passiert sein. Man kommt nicht einfach in Hamburg zur Welt, kauft sich eine Kiste voll Handwerkszeug und landet in Valle Coronata, hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen!«
»Das stimmt.« Enrico sah Anne an, und sein Blick war freundlich und warm, aber er sprach zögernd.
»Ich war Manager eines großen deutschen Unternehmens..., ich habe mich um alles gekümmert, um die Angestellten, die Produktion..., ich habe neue Ideen eingebracht, bahnbrechende Erfindungen gemacht, die gesamte Software des Unternehmens neu konfiguriert. Ich habe gut verdient, aber nicht genug, denn für meine Erfindungen habe ich keinen Pfennig gesehen. Sie waren so zusagen Eigentum der Firma, weil ich Angestellter war. Das war nicht in Ordnung. Ich habe es gehasst, jeden Tag einen Anzug tragen zu müssen, aber als ich im Rollkragenpullover erschien, gab es unglaublichen Ärger. Schließlich hat mir alles gestunken, und ich habe gekündigt.«
»Was war das denn für ein Unternehmen?«
»Ich rede nicht so gern darüber ... «
»Wir sind doch hier völlig unter uns, und dann kann ich mir wenigstens irgendetwas vorstellen ...«
»Eine Mineralölfirma.«
Anne nickte, aber es verschlug ihr einen Moment die Sprache. »Und dann, nach deiner Kündigung?«
Sie fragt viel zu viel, dachte Enrico, aber sie glaubt wenigstens, was man ihr
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