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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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Notdienst. Er glaubte, auf diese Weise den alten Hauke davor bewahren zu können, in seinen letzten Tagen noch in ein Heim zu kommen.
    Der Liebesdienst beim alten Hauke nahm viel Zeit in Anspruch, das war Anne klar. Dass es sich dabei nicht nur um einen Liebesdienst handelte, wusste sie nicht.
    Genau Haukes Haus gegenüber wohnte ihre Freundin Pamela. Sie war Saxofonistin — wahrscheinlich wirklich eine begnadete — und gab Konzerte in Husum, Heide und Hamburg, manchmal auch in München, Köln oder Wien. Sie spielte überall, wo sie gebraucht wurde. In Kirchen, Konzertsälen oder Turnhallen, ihre CDs verkauften sich mäßig, aber alles zusammen reichte, sie als Musikerin zu ernähren. Pamela sah aus wie eine Witzfigur, wie die Karikatur einer Saxofonistin. Sie trug einen langen strengen Zopf am Hinterkopf, den sie manchmal auch zu einer Schnecke drehte, und wenn sie ganz verwegen war, weil sie auf einen Ball oder ein Dorffest ging, wurde aus dem geflochtenen Zopf ein Mozartzopf, und ihre Haare fielen offen bis zur Taille. Ihr Brillengestell war immer noch das aus ihrer Kindheit: streng, sachlich, unspektakulär und abgrundtief langweilig. Im Alltag trug sie Blusen und schwarze Hosen, wenn es festlich wurde Blusen und schwarze Röcke. Normalerweise hatte sie bequeme Laufschuhe an, mit denen man leicht auch durch die Rhön hatte wandern können, wenn es festlich wurde, trug sie Pumps mit flachem Absatz. Ihr ungeschminktes Gesicht kannte kein verschmiertes Make-up nach einer durchsoffenen Nacht, keine Tränensäcke nach zu viel Champagner, keine Mitesser nach fettem Essen. Sie ließ an ihren klaren Teint nur frische Landluft, Wasser und Nivea. Das war Pamela. Eine Seele. Sie tat Anne gut und gab ihr einen gewissen Halt, denn sie brauchte eine Freundin wie Pamela, die immer da war, wenn ihr Leben aus den Fugen geriet.
    Viele Wochen ertrug Pamela klaglos Annes Tränen und die immer gleiche Geschichte von der Osterzeit in der Toscana, als Felix verschwand. Sie hörte auch noch beim hundertsten Mal mit großen erstaunten Augen zu, als würde sie den traurigen Ausgang der Geschichte noch nicht kennen. Sie war wie ein Tagebuch, in das man die immer gleichen Sätze schreiben konnte. Anne hatte nie das Gefühl, sie zu langweilen oder ihr auf die Nerven zu fallen. Pamela nahm sie in den Arm, wiegte sie wie ein Kind und ließ sie weinen. Und Anne glaubte an ihre Freundschaft. Sie dachte, wenn es so etwas wie Loyalität überhaupt gab, dann war sie für ein Wesen wie Pamela eigens erfunden worden.
    Wenn Harald den alten Hauke gewaschen und gefüttert hatte, ging er meist noch auf einen Tee hinüber zu Pamela. Das erfuhr Anne jedoch erst, als es schon zu spät und die Affäre schon einige Wochen alt war. Pamela hatte keinen Freund, war viel allein, und die Teestunde mit Harald war für sie eine willkommene Abwechslung. Sie erzählte ihm von ihren letzten Konzerten und von Brahms, Hindemith und Bartok, die sie verehrte. Harald hatte von all dem überhaupt keine Ahnung. Musik kam in seinem Leben nicht vor. Dass er ihr irgendwann bei Blasmusik die langweilige Klein-Lieschen-Bluse aufgeknöpft haben musste, war für Anne heute noch unvorstellbar.
    Die Sache flog an einem Oktobernachmittag auf, als der alte Hauke nach seiner Brille greifen wollte und dabei das Milchglas vom Nachtisch stieß, das auf den harten Steinfliesen zerbrach. Er versuchte, die Scherben aufzusammeln, weil er Angst hatte, beim Aufstehen hineinzutreten, dabei wurde ihm schwindlig, und er fiel aus dem Bett.
    Unglücklicherweise mit dem Gesicht genau in die Glasscherben. Er hatte zahlreiche und tiefe Schnittwunden, sein Blut tropfte auf Bett und Teppich, und als er aufstand auch auf Tisch und Sessel. Das machte ihm Angst. Er geriet in Panik, verwischte das Blut in seinem Gesicht mit den Händen und sah da nach aus wie ein Zombie, der nach einem Schlachtfest ein Blutbad genommen hat. Er hatte vergessen, wo das Telefon stand, und schleppte sich ans Fenster, wo er an die Scheibe klopfend laut um Hilfe schrie.
    Zu dieser Zeit kam Elsa Sörensen am Haus vorbei, die auf dem Weg zu ihren Enkeln war. Sie hütete sie jeden Nachmittag von fünfzehn bis zwanzig Uhr, während ihre Schwiegertochter in Heide in einem Frisiersalon Dauerwellen legte. Ihr Schwiegersohn arbeitete im Zwei-Wochen-Rhythmus auf einer Bohrinsel in der Nordsee.
    Elsa erkannte die grässliche Gestalt am Fenster nicht. Sie rannte ins nächste Haus zu den Martinsens, und Frauke Martinsen alarmierte die

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