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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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Polizei. Die Polizisten, die eine Viertelstunde später bei Hanke ankamen und die Tür aufbrachen, erkannten sofort, dass das Ganze schlimmer aussah, als es war. Sie wuschen dem Alten das Gesicht, brachten ihn zurück ins Bett und fragten ihn, ob er ins Krankenhaus wolle. Da fing Hauke vor Entsetzen an zu strampeln, wie er in den letzten achtundsiebzig Jahren nicht mehr gestrampelt hatte und rief nach seinem Hausarzt Harald Golombek. Haralds Auto stand bei Hanke vor der Tür, aber er war nicht da. Das konnte sich niemand erklären, und nun wurde er überall gesucht. In der Praxis war er nicht, zu Hause auch nicht, und seine Sprechstundenhilfe wusste von keinen weiteren geplanten Hausbesuchen. Sein Handy war ausgeschaltet, man war ratlos. Bis dann Elsa, die im Dorf immer das Gras wachsen hörte, auf die Idee kam, doch mal bei Pamela zu klingeln, es könnte doch sein, dass der Herr Doktor ...
    Pamela öffnete der Polizei im lindgrün geblümten Morgenmantel, und auch Harald war noch nicht vollständig angezogen, als ihn die Polizisten baten, sich um den alten Hanke zu kümmern.
    Das Ganze war bereits eine öffentliche Affäre und Dorfgespräch, bevor Anne und Harald in der Lage waren, über das, was geschehen war, zu reden. Der alte Hauke starb noch am selben Abend an einem Infarkt. Sein Herz hatte die Aufregung und das heftige Strampeln nicht verkraftet.
    Anne ging am nächsten Tag zu Pamela. Pamela lächelte, als sie ihr die Tür öffnete, und trocknete gerade ihre Hände an einem Küchenhandtuch ab. Anne lächelte auch, nahm ihr das Kassengestell von der Nase und schlug ihr mit aller Kraft ins Nivea-gepflegte Babyface. Dann marschierte sie an der völlig perplexen Pamela vorbei ins Wohnzimmer, wo verschiedene Saxofone an der Wand hingen, hob die schwere Glasplatte vom Äquarium, in dem knallbunte Neonfische schwammen, nahm ein Saxofon mittlerer Größe von der Wand und tauchte es ins sprudelnde Fischwasser. Das goldene Saxofon sah im Aquarium wunderschön aus, Anne war begeistert. Als sie an der fassungslosen Pamela vorbeiging zischte sie noch: »Ruf mich nie wieder an!« und verschwand aus ihrer Wohnung und aus ihrem Leben.
    Als Anne am Abend nach Hause kam, hatte sich Pamela bei Harald längst über sie beschwert. Harald war krebsrot vor Wut und warf seiner Frau vor, sich wie eine hysterische Ziege benommen zu haben, die sich zum Gespött des ganzen Dorfes machte. Wenn Pamela diesen peinlichen Auftritt herumtratschen würde — und das sei zu erwarten —, wäre auch er als Arzt lächerlich gemacht. Die Liebe sei schließlich wie ein Sommergewitter, das einen auf freiem Feld überraschen und in Sekunden völlig durchnässen konnte. Man kann ihm nicht entfliehen, und es ist ungewiss, ob man es überlebt oder nicht, wenn die Blitze um einen herum in die Erde fahren und einem die elektrische Spannung bis zum Halskragen steht. Man ist zwischen Angst und Faszination hin und her gerissen und plötzlich mutterseelenallein auf der Welt. Und er fühle sich, als sei er bereits vom Blitz getroffen und teilweise gelähmt. Unfähig, seine Beine zu bewegen und nach Hause zurückzukehren. Er wisse nur eins: Er habe sich unbekümmert in der Welt, das heißt auf freiem Feld bewegt, und das könne man ihm nicht vorwerfen. Dass das Gewitter über ihn gekommen sei, sei nicht seine Schuld. Auf alle Fälle sei es kein Grund, derartig aggressiv zu reagieren und eine wehrlose Frau nicht nur zu schlagen, sondern auch noch ein kostbares Instrument im Aquarium zu versenken. Annes Verhalten sei schlicht primitiv und für eine Arztfrau absolut unentschuldbar.
    Anne hatte vergessen, was er sonst noch alles sagte, er monologisierte ziemlich lange. Sie wunderte sich nur über diesen Mann, den sie so gut zu kennen glaubte und der plötzlich in Gleichnissen sprach, was er bisher noch nie getan hatte. Und sie wunderte sich über sich selbst, denn es gelang ihr, sich mit vollkommen ruhigen
    Händen einen Whisky einzuschenken, sich in einen Sessel zu setzen, gelangweilt die Beine übereinander zu schlagen, eine Zigarette zu rauchen und sich bei all dem interessiert selbst zu beobachten. Es war ihr alles so gleichgültig, was er sagte, um sie herum war Eiseskälte, und sie fing noch nicht mal an zu zittern. Es hatte nichts mehr mit ihr zu tun, und sie fühlte sich plötzlich so stark wie eine Frau, die sich seit zwanzig Jahren allein durchs Leben schlägt und die so leicht nichts mehr umhaut. Sie sah Harald zu, wie er im Zimmer auf und ab ging,

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