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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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erzählt. Sie ist eine, die sich sicher fühlt, wenn sie viel über einen Menschen erfährt. Das konnte er gut verstehen, also beantwortete er weiter ihre Fragen.
    »Sie haben mir den roten Teppich ausgerollt. Sie boten mir an, für das gleiche Geld nur die halbe Zeit arbeiten zu müssen. Ohne Anwesenheitspflicht. Ich hatte quasi freie Hand. Konnte tun und lassen, was ich wollte. Sie waren nur scharf auf meine Ideen.«
    »Das ist doch fantastisch! Einen besseren Job gibt es doch gar nicht!«
    Enrico nahm die Artischocken aus dem Topf. Er sprach langsam, war auf der Hut, versuchte sich zu erinnern, wollte jetzt keinen Fehler machen. »Kann sein. Wahrscheinlich hast du Recht. Aber ich hatte gekündigt, also blieb es dabei. Ich habe dir schon mal gesagt ... ich zocke nicht, ich feilsche nicht, und ich lasse nicht mit mir handeln. Wenn ich einen Preis sage, dann bleibt es dabei. Und wenn ich kündige, auch. Also bin ich gegangen.«
    Anne verstummte. Was für ein Wahnsinn! Was für ein heller Wahnsinn, wenn es stimmte, was Enrico gesagt hatte, wenn es dieses Angebot wirklich gegeben hatte.
    Enrico redete weiter.
    »Es war mir alles zu viel. Ich hatte eine Wohnung, ein großes Auto, eine Freundin, jede Menge Möbel und massenweise Klamotten im Schrank. Ich hatte einen Terminkalender auf dem Schreibtisch und Kreditkarten in der Hosentasche. Ich hatte ein geregeltes Einkommen, eine feste Adresse, und meine Lebensplanung reichte immer bis zum nächsten Urlaub. Jeden Morgen um sieben Uhr dreißig klingelte der Wecker, und jeden Abend gab es die >Tagesschau. Wenn ich Carla zum Essen ins Restaurant einlud, war das ein besonderer Abend, obwohl wir es uns hätten leisten können, dreimal täglich im Restaurant zu essen. Mein Telefon klingelte ständig, ich war immer verfügbar. Meine Zukunftsperspektive hieß: Noch zwanzig Jahre so weiterzumachen und sich zu Tode zu langweilen, dann in Rente zu gehen, anfangen zu leben, zwei Jahre später durch einen Herzinfarkt den Löffel abzugeben und alles den Erben zu hinterlassen. Auf meinem Grabstein hätte gestanden: Er hat das Leben nie kennen gelernt. Und das wollte ich alles nicht. Insofern kam mir die Kündigung ganz recht.«
    Enrico legte Anne eine Artischocke auf den Teller und stellte die Pestosoße daneben. »Lass es dir schmecken.«
    Anne war irritiert. »Und du? Isst du gar nichts?«
    »Doch, aber nicht jetzt. Ich esse sehr wenig und nur selten etwas. Ich habe dir schon mal gesagt, ich versuche, sparsam und bescheiden zu leben. Wenn ich einkaufe, nehme ich nur die Hälfte von dem, was ich brauche. Und wenn ich etwas koche und mich auf das Essen freue, versuche ich, darauf zu verzichten, wenn es fertig ist.« »Das ist ja furchtbar! Das macht doch keinen Spaß! Du nimmst dir ja die ganze Freude am Leben!«
    Enrico lächelt. »Überhaupt nicht. Ich bin zufrieden. Und jetzt lass diese köstliche Artischocke nicht kalt werden!«
    Anne begann zu essen, aber sie war enttäuscht. Die behagliche, friedliche und romantische Atmosphäre war verflogen. Sie kam sich beobachtet und gezwungen vor wie ein Kind, das seinen Grießbrei essen muss.
    Es war still in der Küche, und Anne versuchte umso mehr, kein Geräusch beim Essen zu machen. Enrico hatte ein undefinierbares, leichtes Lächeln um die Lippen, als erwarte er, jeden Moment ins Nirwana überzugehen. Er spielt mir etwas vor, dachte Anne, genau wie bei unserer Besichtigung, als er mit dem Buch in der Hand auf der Terrasse saß. Er inszeniert sich. Aber warum? Er hat es doch gar nicht nötig. Er ist hier zu Hause, nicht ich. Und ich kaufe das Haus auch, wenn er kein Philosoph ist.
    »Und dann?«, fragte sie. »Was hast du nach deiner Kündigung gemacht?«
    Enrico saß sehr aufrecht und faltete die Hände in seinem Schoß. »Ich habe alles verkauft. Meine Wohnung, meine Möbel, fast meine gesamte Garderobe. Und mein Auto. Es war ein sehr wertvolles Auto. Ein Mercedes aus dem Jahre 1935. Ein echter Oldtimer, spitzenmäßig gepflegt. Ich wollte ein Segelboot kaufen und um die Welt segeln. Fast ausschließlich von Fischen leben und ver suchen, mit meinem Geld bis ans Ende meiner Tage auszukommen. Aber Carla wollte nicht. Sie machte Schwierigkeiten. Sie hatte Angst vor Wasser und Wellen, vor Sturm und Wind, vor der Einsamkeit, sie hatte in ihrem Leben noch nicht mal eine Butterfahrt nach Helgoland gemacht, weil sie es bedrohlich fand, auf schwankendem Boden zu stehen. Sie befürchtete, zu ertrinken oder an Übelkeit und ständigem Erbrechen zu

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