Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
Vom Netzwerk:
vergraben, und sie wäre aus dieser Welt verschwunden. So wie Felix. Vielleicht war er hier vergraben und vermoderte unter der Erde nur wenige Meter entfernt. Oder fünfhundert Meter weiter, oder fünf oder fünfzig Kilometer weiter. Irgendwo.
    Vielleicht war es ja auch ihr Schicksal, das Gleiche zu erleiden. Vielleicht würde sie in ihrer letzten Sekunde erkennen, was Felix geschehen war. Und ihr Bauch sagte, tu es, bleib hier, ein neues Leben ist auch mit neuen Erfahrungen verbunden. Wenn du davor Angst hast, hättest du auch in Friesland bleiben können.
    »Nun?«, fragte Enrico.
    »Ich finde deinen Vorschlag großartig«, sagte sie und entspannte sich in diesem Moment, weil ihre Entscheidung gefallen war. »Und wenn es dir wirklich nichts ausmacht, würde ich gern ein paar Tage bleiben. Aber nur, wenn es dir wirklich nichts ausmacht!«
    »Wenn man ein Auto kauft, muss man Probe fahren. Wenn man ein Haus kauft, muss man Probe wohnen. Anders geht es gar nicht.«
    »Okay.« Anne stand auf. »Dann fahre ich jetzt nach Siena und hole meine Sachen. Soll ich irgendetwas mitbringen? Zum Abendbrot?«
    »Ein bisschen Gemüse wäre nicht schlecht ...«
    »Gut.« Anne trat aus der Küche. Nach der Dunkelheit in der Küche fühlte sie sich durch das Sonnenlicht geblendet. Sie nickte ihm zu. »Dann bis nachher.«
    »Bis nachher«, wiederholte Enrico und verschwand wieder im Haus.
    Anne ging langsam zu ihrem Auto und konnte gar nicht glauben, was mit ihr geschah.
    In Siena kaufte sie ein paar Artischocken, Salat und Tomaten, dazu einen halben Pecorino und hundert Gramm frische Pestosoße. Dann ging sie in ihr Hotelzimmer, um zu packen. Als sie fertig war, war es bereits vierzehn Uhr, aber das junge Mädchen an der Rezeption war nett und berechnete ihr den Tag nicht, obwohl sie erst so spät ausgecheckt hatte. Als sie bezahlte, fiel ihr ein, dass sie das Engelsbild nicht mehr unter dem Bett hervorgeholt und wieder aufgehängt hatte, aber jetzt war es zu spät. Sie sagte nichts, gab ihren Schlüssel ab und verließ das Hotel. Wer weiß, vielleicht würde sie ja noch einmal zurückkehren, vielleicht auch nicht.
    Als sie ins Auto stieg, schaltete sie ihr Handy ein und sah auf dem Display, dass Kai bereits mehrmals versucht hatte, sie zu erreichen. Sie rief ihn an. Er nahm sofort ab und war so erleichtert, sie zu hören, als sei sie vier Wochen im Urwald verschollen gewesen und endlich — lebendig — wieder aufgetaucht. Das freute sie, und sie willigte ein, sich mit ihm auf der Piazza Indipendenza zu treffen.
    45
    Als sie ihn von weitem kommen sah, mit seinem lockeren Gang, seinem gewinnenden Lächeln und seinem etwas zu weiten Anzug, der etwas Rührendes hatte, überlegte sie einen Moment, ob sie nicht doch erst morgen ins Tal fahren sollte. Morgen wäre ja immer noch früh genug, und sie hätte einen Abend und eine ganze Nacht mit Kai, sie könnte endlich einmal das ausleben, wovon sie träumte, seit Harald mit ihrer Exfreundin Pamela ein Verhältnis angefangen hatte. Pamela die Brave, die Nette, die Hilfsbereite, die Immer-zur-Verfügung-Stehende, die Himmel so gut wie du möchte-ich-auch-einmal-aussehen-Sagende ..., Pamela, die Unscheinbare, das Mauerblümchen ..., Pamela, von der sie sich immer vorgestellt hatte, man könne sie mit zwanzig ausgehungerten Strafgefangenen auf einer einsamen Insel aussetzen, und keiner würde sie anrühren. Pamela war eine sichere Bank. Pamela konnte man bitten, die Blumen zu gießen, den Hund spazieren zu führen und dem Mann ein warmes Essen hinzustellen. Und man konnte dennoch beruhigt in Urlaub fahren. Sie hätte Pamela mit Harald in einem Zimmer schlafen lassen, wenn es nötig gewesen wäre — und dann das. So etwas Dreistes! So etwas schier Unvorstellbares.
    Anne war vollkommen blind gewesen oder verblendet von Pamelas »Sittsamkeit«, die sie ihr aber offensichtlich nur angedichtet hatte. Es begann zu der Zeit, als der alte Hauke im Sterben lag. Er war vierzig Jahre lang zur See gefahren und ein zäher Bursche, und er lag beinah wochenlang im Sterben. Harald fuhr jeden Tag nach dem Mittagessen zu ihm ins alte Pastorat, um noch vor der Nachmittagssprechstunde nach ihm zu sehen, ihm eine Spritze zu geben und sich wenigstens eine Viertelstunde völlig verworrenes See mannsgarn anzuhören. Er wusch ihn und bezog sein Bett frisch, stellte ihm Milch in den Kühlschrank und schmierte das Leberwurstbrot für den Abend. Das war Harald: Landarzt und Krankenschwester, Seelsorger und sozialer

Weitere Kostenlose Bücher