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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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erzählte.
    Enrico stellte den Rucola auf den Tisch und Essig und Öl dazu. Seine Bewegungen waren vollkommen ruhig, die Hände, die kein bisschen zitterten, hätten ohne Probleme auch ein Skalpell führen und filigrane Schnitte setzen können. Er stellte zwei Teller auf den Tisch — offensichtlich hatte er vor, den Salat mitzuessen. Dann setzte er sich und lächelte wie gewohnt. »Guten Appetit«, sagte er.
    »Guten Appetit«, murmelte Anne.
    Eine Weile sagten sie kein Wort.
    Anne beobachtete Enrico, wie er aß. Langsam, bedächtig, als mache er sich jeden Bissen bewusst. Wenn er sie ansah, hatte er etwas Abwartendes, Forschendes in seinem Blick ..., überheblich wäre das falsche Wort—aber es machte sie unsicher. Sie kam sich vor wie ein Kind, das darauf wartet, dass man ihm sagt, was weiter geschieht.
    Und plötzlich stellte sie sich vor, Felix würde die Treppe herunterkommen. Ein großer, kräftiger, blonder junger Mann, braun gebrannt, stark und glücklich. Mit einer viel zu weiten Hose und einem knappen T-Shirt, der grinst und sagt: »Hei, Mama, ich hab deine Stimme gehört, und da dachte ich, guckst du doch mal.« Er würde sie fest umarmen und dann sagen: »Sorry, dass ich mich nicht gemeldet habe die ganze Zeit, war sicher Scheiße von mir und echt nicht gut für euch ..., aber weißt du, es war so geil hier, das Leben mit Enrico, das Leben im Wald, die harte Arbeit ..., du, das war echt mein Ding. Und wenn ihr gewusst hättet, wo ich bin, hättet ihr mich doch nur nach Hause geholt und wieder ins Gymnasium gesteckt. Und das wollte ich nicht. Ums Verrecken nicht. Nicht böse sein, Mum, okay?«
    Er wäre jetzt zwanzig. Felix. Ihr schöner, starker junge.
    Als Anne erwachte, war es stockdunkel. Sie wusste nicht, wo sie war, konnte die Hand nicht vor Augen sehen, sie spürte nur, dass sie auf einer Matratze lag, mit einem kleinen Kissen und einer Wolldecke. Langsam tastete sie ihre Umgebung ab. Die Matratze lag auf der Erde, aber da war nichts weiter. Keine Lampe, keine Tasche, nichts. Ihre Jeans, ihre Bluse und die Jacke hatte sie noch an, aber keine Schuhe mehr.
    Mein Gott, war sie in der Mühle oder im großen Haus? Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie ins Bett gekommen war, sie wusste nur, dass sie den Wein irgendwann nicht mehr nur genippt, sondern in großen Zügen getrunken hatte.
    Sie kroch tiefer unter die Decke und steckte sie unter ihrem Rücken fest, um zu verhindern, dass die kühle Nachtluft einen Weg unter die Decke fand—aber es nützte nicht viel. Ihr ganzer Körper vibrierte wie auf einem Schüttelbrett, und jetzt klapperten auch noch ihre Zähne aufeinander.
    Wie lange hatten sie noch in der Küche gesessen? Und worüber hatten sie geredet? Verdammt noch mal, sie konnte sich an nichts mehr erinnern. An keine einzige Kleinigkeit. Da war ein tiefes, schwarzes Loch. Einfach ein ganz brutales Nichts. Wer hatte sie ins Bett gebracht? Enrico wahrscheinlich. Er musste sie getragen und sie so fest geschlafen haben, dass sie nichts gemerkt hatte. Das war ihr noch nie passiert. An manche Nächte und Abende erinnerte sie sich nur dunkel, aber sie erinnerte sich.
    Sie versuchte die Angst zu unterdrücken, die in ihr aufstieg. Es erschien ihr auf einmal völlig absurd, dass sie in diesem gottverdammten einsamen Tal mit seinen Mauern und Treppen und Schluchten war, das sie nicht kannte ... und in einem Haus schlief, das sie ebenso wenig kannte. Und irgendwo war dieser Mann, den sie erst recht nicht kannte. Irgendwo.
    Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie musste warten, bis es hell wurde. Vorher war es unmöglich, sich zu orientieren. Sie lag auf einer Matratze in einem Raum. Das war nicht das Schlechteste. Vielleicht spielte ihre Fantasie schon wieder verrückt in diesem undurchdringlichen Schwarz, das sie umgab wie eine dumpfe, stickige Moltondecke, die keinen Lichtschimmer und keine Luft zum Atmen durchließ.
    Morgen, dachte sie. Morgen wird alles gut Morgen wird sich alles klären. Morgen werde ich alles verstehen.
    Und dann schlief sie wieder ein und spürte nichts mehr. Das Zittern ließ nach, und ihr Körper wurde ganz schwer.
    Hamburg, 2004
    Eduard Hartmann röchelte. Er hatte die Augen geschlossen und lag steif auf dem Rücken, aber er schlief nicht. Carla hatte ihm gerade die Windel gewechselt, den Hintern gewaschen, die verdreckte Bettdecke neu bezogen und den stinkenden Müllbeutel nach draußen gebracht. Jetzt roch es angenehm frisch und sauber im Schlafzimmer. Die Rollläden vor dem

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