Der Kindersammler
zuckte mit den Schultern und machte ein verlegenes Gesicht. »Das nicht, aber ... ich weiß nicht, ich glaube, das hat viele Gründe ...«
»Welche?« Susi war knallhart.
»Keine Ahnung, aber ich bin sicher, es hat nichts mit mir zu tun.«
»Redet ihr nicht darüber? Sagst du ihm nicht, was du willst? Was du vermisst?«
Carla schüttelte den Kopf. »Ich kann es dir nicht erklären, aber mit Alfred kann man über so was nicht reden.«
Susi verdrehte den Kopf und blickte zur Zimmerdecke.
»Mäuschen, das ist doch alles eine einzige große Scheiße! Diese Beziehung taugt vorne und hinten nicht! Du vegetierst im Wald vor dich hin, ohne Telefon, in krankhafter Sparsamkeit, ohne Spaß, ohne Fernsehen, ohne Freunde was soll denn das? Du brauchst Menschen, du brauchst Abwechslung, du brauchst eine sinnvolle Beschäftigung, vor allem brauchst du eine Freundin, mit der du reden kannst, bevor du in diesem Sumpf erstickst!«
Carla rieb sich die ungeschminkten Augen und lächelte.
Himmel, wenn ich das machen würde, dachte Susi, ich würde aussehen wie eine Schlampe vom Kiez, die drei Tage nicht aus dem Bett gekommen ist. Aber meine kleine Schwester marschiert mit diesem ungeschminkten Gesicht durch die Gegend, dabei würde sie fantastisch aussehen mit ein bisschen Augenmake-up und einem Hauch von Rouge... Seit sie diesen Mann kennt, richtet sie sich zugrunde. Systematisch.
Tut mit traumwandlerischer Sicherheit nur noch das, was schlecht für sie ist und sie ins Unglück stürzt.
»Das stimmt schon, eine Freundin wäre schön«, sagte Carla. »Es ist verdammt still bei uns, denn Alfred und ich reden auch nicht viel miteinander. Worüber auch? Wenn ich aus Deutschland zurückkomme, fällt mir das Schweigen sehr schwer, aber dann ... Nach ein paar Tagen hab ich mich daran gewöhnt. Und irgendwann verliert man die Lust, überhaupt noch den Mund aufzumachen.«
»Ach du Heiliger!« Susi war entsetzt. »Ein Grund mehr, zurück nach Deutschland zu kommen. Bitte, Carla!«
Carla schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Alfred kann ohne mich nicht leben und ich nicht ohne ihn.«
»Irgendwie ist dir nicht zu helfen.« Susi hatte für Alfred nur Verachtung übrig.
»Du kennst ihn zu wenig«, sagte Carla sanft. »Er ist ein fantastischer Mensch.«
»Himmel, Carla, er behandelt dich wie ein kleines Kind! Merkst du das nicht? Er kontrolliert dich von morgens bis abends!« Susi regte sich schon wieder auf. »Er will wissen, mit wem du dich triffst, mit wem du telefonierst, was du sagst, du könntest ja über ihn reden, du könntest ja was Falsches sagen, du könntest ja irgendjemand verraten, in welchem Erdloch ihr haust!«
»Hör auf, Susi!« Carla nahm Susi das, was sie sagte, nicht übel, sie lächelte sogar. »Er hat Angst um mich. Er macht sich eben schnell Sorgen. Und das würde er nicht tun, wenn er mich nicht lieben würde. Nur darum will er immer wissen, wo ich bin. Das ist das ganze Geheimnis.«
Susi seufzte. »Du bist wirklich nicht zu retten.« Sie wollte Carla Sekt nachschenken, aber diese hielt schnell ihre Hand übers Glas. »Für mich nicht mehr, ich muss los.«
In diesem Moment kam Callas und Susis Mutter in die Küche. Carla stand auf und nahm sie in den Arm. Ihre Mutter flüsterte:
»Nimm Papa nicht übel, wie er ist, ja? Er kann nun mal keine Gefühle zeigen, und dann ist er lieber ekelhaft, als dass er gar nichts sagt.«
Carla nickte. »Soll ich noch mal zu ihm reingehen?«
»Das kannst du, aber er schläft jetzt.«
Als Carla ins Schlafzimmer kam, lag ihr Vater ganz still auf dem Rücken. Die Augen, die tief in ihren Höhlen lagen, waren geschlossen. Das Röcheln hatte aufgehört.
»Tschüss, Papa«, flüsterte Carla.
Als sie sich über ihn beugte, raunte er: »Ich bin auf der Fahrt m die Hölle, mein Kind.«
»So was darfst du gar nicht denken. Und auch nicht sagen.«
»Doch, meine Kleine, so ist das. Aber vielleicht bleibt der verdammte Karren noch mal im Dreck stecken und ich kann die Ankunft herauszögern, bis du wiederkommst ...«
Sein lippenloser Mund verzog sich zu einem schwachen Grinsen, und Carla wusste, dass dies eine Liebeserklärung sein sollte. Wahrscheinlich die größte, zu der ihr Vater überhaupt fähig war.
49
Der ICE 241 »Klaus Störtebeker« aus Westerland hatte bereits neunzehn Minuten Verspätung, als Carla zehn Minuten vor der regulären Abfahrtzeit auf den Bahnhof kam. Sie klemmte sich ihren Koffer zwischen die Beine und drückte sich mit dem Rücken ganz dicht an eine
Weitere Kostenlose Bücher