Der Kindersammler
wuchtete ihren Koffer auf das Gepäcknetz direkt über ihrem Kopf und lächelte. »Danke«, sagte Carla. »Echt nett von Ihnen.«
Der Soldat lächelte ebenfalls und setzte sich Carla direkt gegenüber. »Hier ist ja genug Platz. Kann ich ja gleich hier bleiben.« Seine Nase war rot und feucht, und er wischte sie sich mit dem Unterärmel seiner Uniform ab. Carla versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie entsetzlich sie das alles fand, und schloss entnervt die Augen.
Sie war erschöpft. Vollkommen übermüdet von den Nächten am Bett ihres Vaters.
Von dem ständigen Aufspringen aus dem Tiefschlaf, wenn er stöhnte, jammerte oder schrie. Wenn er rief, weil seine Windel voll war oder er ein Schmerzmittel brauchte.
Sie hatte in den letzten Wochen nie länger als zwei Stunden am Stück geschlafen. Und jetzt hatte sie Zeit. Bis München waren es sechs Stunden. Der Soldat war eklig, aber sie fürchtete sich nicht vor ihm. Er würde niesen, aber er würde ihr sonst nichts tun. Also schlang sie sich den Trageriemen ihrer Handtasche zweimal um den Ellenbogen, klemmte die Tasche zwischen Taille und Zugwand, ließ ihren Kopf gegen ihre am Haken hängende Jacke sinken und schlief ein.
Als Carla kurz vor München erwachte, war sie allein im Abteil. Der Soldat war nicht mehr da, aber er hatte einen Gruß hinterlassen und auf die beschlagene Scheibe »Gute Reise« geschrieben.
50
Berlin, Frühsommer 2004
Mareike hatte das Gefühl, einen Marathonlauf hinter sich zu haben, so müde war sie, als sie die Tür aufschloss. Gleich hinter der Tür zog sie die Schuhe aus und hängte ihre Umhängetasche an die Garderobe. Sie war heute Morgen um halb sechs in den Grunewald, lagen 17, gerufen worden, weil ein Jogger dort einen Toten gefunden hatte. Sie hatte den ganzen Tag ermittelt, und jetzt erst, nach zwanzig Uhr, hatte sich durch die Autopsie herausgestellt, dass der alte Mann ohne Fremdeinwirkung an einem Herzinfarkt gestorben war. Einen ganzen Tag mühevolle, nervenaufreibende Kleinarbeit, und alles für die Katz. Jetzt wollte sie nur noch eine Kleinigkeit essen, ein bisschen fernsehen und den Mann vergessen, der so unglücklich gestürzt war, dass er mit seinem Gesicht im Stacheldraht hängen geblieben war.
»Jan! Edda! Seid ihr da?«, rief sie und zog ihr dünnes Leinenblouson aus.
Eine Tür sprang auf, und ein elfjähriger Junge stürmte auf sie zu und flog ihr um den Hals. »HL Mama!«
Mareike gab ihm einen Kuss und wuschelte ihm durchs Haar. »Wo ist Edda?«
»Bei Mona. Aber sie kommt um neun zurück, hat sie gesagt.« »Na hoffentlich. Und Bettina?«
»Die ist beim Elternabend. Weißt du doch!«
»Ach ja, richtig. Hab ich ganz vergessen.« Mareike ging in die Küche, Jan folgte ihr.
Im Kühlschrank war in einem kleinen Topf noch ein Rest Hühnersuppe.
»Hast du schon Abendbrot gegessen?«
Jan nickte. »Bettina hat mir was gemacht, bevor sie gegangen ist. Ach übrigens, in meinem Zimmer läuft ein Computerspiel, kann ich weitermachen?«
»Na klar. Was ist mit Schularbeiten?«
»Alles fertig.« Jan verschwand in seinem Zimmer. Mareike stellte den Topf auf den Herd und schaltete ihn an.
Vor dreizehn Jahren war es Bettina und Mareike endlich gelungen, die dreijährige Edda zu adoptieren. Dem war ein sechsjähriger Kampf mit den Behörden vorausgegangen. Ein Mitarbeiter im Jugendamt fand Mareike damals mit ihren dreiundvierzig Jahren zu alt, ein anderer lehnte es grundsätzlich ab, einem lesbischen Paar ein Kind zu vermitteln. Jeder fand ein anderes Haar in der Paragraphensuppe, aber Mareike und Bettina schafften es, mit Sturheit, Beharrlichkeit und der Unterstützung eines Anwalts alle Bedenken auszuhebeln. 1991 adoptierten sie Edda und zwei Jahre später den einjährigen Jan, was keine Schwierigkeit mehr darstellte.
Bettina war überglücklich und in ihrem Element. Sie liebte beide Kinder abgöttisch und schaffte es problemlos, die Kindererziehung mit ihrem Beruf als Schulsekretärin zu vereinbaren, während Mareike kaum zu Hause war und zwölf Stunden am Tag arbeitete. Vor drei Jahren war die ganze Familie nach Berlin gezogen. Karsten Schwiers leitete die Neuköllner Mordkommission und hatte Mareike in sein Team geholt. Mareike wurde von ihren Kollegen nicht unbedingt gemocht, aber geachtet, denn es war klar, dass sie Karstens Nachfolgerin werden würde, der im kommenden Jahr in Rente gehen wollte.
Karsten und Mareike waren über ihr kollegiales Verhältnis hinaus zu Freunden geworden, es gelang ihnen aber nie,
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