Der Kindersammler
Säule, damit keiner von den Jugendlichen, die mit Bierflaschen in der Hand herumstanden, die Gelegenheit nutzen und sie vor den Zug schubsen konnte. Sie hasste die kreischenden, gewaltigen Züge, die in den Bahnhof rauschten wie eine Naturkatastrophe, als würden nicht hunderte von verletzlichen Menschen in unmittelbarer Nähe stehen. Mit sechzehn hatte sie mit ansehen müssen, wie das Bein eines alten Mannes zwischen Bahnsteig und U-Bahn eingeklemmt wurde. Dort, wo eigentlich nur eine Lücke von zwei, drei Zentimetern war, steckte ein Ober schenkel, der normalerweise einen Durchmesser von dreißig, vierzig Zentimetern hat. Es dauerte über eine Stunde, bis der Mann von der Feuerwehr mit Schneidbrennern befreit war und abtransportiert werden konnte. Carla bekam einen Nervenzusammenbruch und hatte das Bild des Mannes nie vergessen können. Man erzählte ihr, sie hätte auf dem Bahnsteig geweint und geschrien und wäre von Polizisten beruhigt und schließlich nach Hause gefahren worden — sie selbst wusste gar nichts mehr davon.
Nur dieser Mann — dieser alte eingeklemmte Mann sah aus wie ihr Vater, als er vor einigen Jahren noch aus dem Haus ging mit Hut und Mantel und meist auch mit einem Regenschirm. Sie sah in ihm zeitlebens ihren Vater, der von einer U-Bahn niedergewalzt und besiegt worden war. Es gab so vieles, was stärker war als der Mensch. Sogar stärker als der allmächtige Vater einer kleinen Tochter. Und jetzt lag er da in diesem Haus mit den gelben Back steinen und den bräunlichen Rollläden und trotzte dem Tod. Und wollte einfach nicht begreifen, dass dieser Feind unbesiegbar war.
Neben ihr stand ein Bundeswehrsoldat und rotzte unaufhörlich lautstark auf die Erde. Auf dem Bahnsteig konnte man die gelblich klebrigen Schleimpfropfen deutlich sehen, die dort jetzt wahrscheinlich tagelang vor sich hin trocknen würden. Carla ekelte sich derart, dass sie pausenlos schlucken musste, um den Brechreiz zu unterdrücken. Und dann dachte sie an Alfred, dem auch ständig der trockene Speichel in den Mundwinkeln klebte, weil er zu wenig trank, und dessen Zähne immer gelber und grünlicher wurden, weil ihm Zahnpasta zu teuer war. Alfred, den sie liebte, aber den sie schon ewig nicht mehr geküsst hatte. Allein bei dem Gedanken daran wurde ihr übel.
Der Soldat neben ihr bekam einen Niesanfall und nieste immer wieder in seine offene Hand. Zwischen den einzelnen Attacken betrachtete er interessiert den Schleim zwischen seinen Fingern. Carla versuchte, nicht hinzusehen, versuchte zu ignorieren, was neben ihr geschah, und konzentrierte sich darauf, vor Ekel nicht ohnmächtig zu werden. Nicht hier, auf dem windigen Bahnsteig. Sie wollte nicht zu guter Letzt noch in ein Krankenhaus in Altona eingeliefert werden und zwei Tage in einem beigefarbenen Krankenzimmer mit Neonröhre über dem Bett und einem Kruzifix an der gegenüberliegenden Wand verbringen. Sie wollte ein ruhiges, stilles Abteil erreichen, mit einem ange nehmen Menschen als Gesellschaft. Sie wollte nach Hause. Nach Italien. Nach Valle Coronata. Zu Alfred. Oder besser: Zu Enrico. In ihren Gedanken war er immer »Alfred«, aber er mochte es nicht, wenn sie ihn so nannte, sie würde sich wieder umgewöhnen müssen. Aus irgendeinem Grund, den sie nicht kannte, gefiel ihm der Name >Enrico< besser. Sie verstand es nicht, aber sie respektierte es. Schließlich konnte sich jeder so anreden lassen, wie er wollte.
Dass Alfred vor seiner Heirat mit Grete »Heinrich« mit Nachnamen geheißen hatte, wusste Carla nicht. »Enrico« — das italienische Pendant für »Heinrich«.
Der Bundeswehrsoldat nieste immer noch, als die Bahn einfuhr. Der Zug bremste mit einem ohrenbetäubenden Quietschen, und Carla wollte gerade ihren Koffer greifen, als der Bundeswehrsoldat einen schnellen Schritt auf sie zumachte, mit seinen verrotzten, schmierigen Fingern ihren Koffer nahm und sagte: »Lassen Sie mal, ich heb Ihnen den Koffer rein, kein Problem.« Carla erstarrte. Aber sie konnte nichts dagegen tun und lächelte gequält. Es war ohnehin zu spät, der Griff war mit dem Rotz des Soldaten bereits beschmiert.
Carla taumelte durch den Zug auf der Suche nach ihrem Abteil, der Soldat immer dicht hinter ihr. Als sie stehen blieb, um noch einmal nach ihrer Platzkarte zu sehen, stürzte der Soldat fast über sie, da er mit dem plötzlichen Stopp nicht gerechnet hatte. Schließlich fand sie ihr Abteil. Es war leer. Erleichtert sank sie auf einen Platz am Fenster, der Soldat kam nach,
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