Der Kindersammler
ihren größten Fall des Kindermörders zu lösen, der in Berlin-Neukölln, im Hahnenmoor bei Braunschweig und auf Sylt drei kleine Jungen ermordet und ihnen postmortem die Eckzähne herausgebrochen hatte.
Vor fünfzehn Jahren hatte die Mordserie plötzlich aufgehört. Karsten und Mareike gingen davon aus, dass der Täter ums Leben gekommen, wegen eines anderen Deliktes verhaftet worden oder ins Ausland geflüchtet war, aber es lastete ihnen immer noch auf der Seele, dass sie die Akte unverrichteter Dinge schließen mussten.
Auf dem Tisch lag Jans Schmöker »Ivanhoe, der schwarze Ritter«, den er gerade las, ein Sachbuch über Süßwasserfische, da er sich sehnlichst ein Aquarium wünschte, die Einzelteile seines Füllers und ein hoffnungslos zerfleddertes Mathebuch, das mindestens schon dreimal für jeweils zwei Jahre von Kinderhänden misshandelt worden war. Mareike räumte alles neben den Brotkorb und setzte sich.
Jan war ein Kind, das keinerlei Probleme machte. In der Schule brachte er sehr gute Leistungen, ohne dass er sich dafür groß anstrengen musste, er war nicht gerade ordentlich, aber sportlich und fröhlich und liebte seine beiden Mütter Bettina und Mareike abgöttisch.
Edda dagegen steckte mitten in der Pubertät und quälte sich mit Ach und Krach durch die Schule, da sie sich für ihr Bauchnabelpiercing, das sie sich heimlich hatte stechen lassen, wesentlich mehr interessierte als für ihre katastrophalen Englischzensuren. Edda war ständig beleidigt, launisch wie Königinmutter, grundsätzlich mit nichts zufrieden, und außer ihren Freundinnen gingen ihr alles und jeder auf die Nerven.
Mareike schaltete den kleinen Fernseher an, der auf dem Küchenschrank stand, rührte einmal kurz die Suppe um und zappte durch die Programme. Bettina hasste es, wenn beim Essen ferngesehen wurde, sie wollte nicht schuld sein an der Verblödung der Kinder, wie sie sagte, aber Mareike brauchte jetzt ein paar bunte Bilder. Es war ihr einfach zu still in der Küche.
Auf RTL gab es eine Doku-Soap über schwer erziehbare Kinder, der Mareike bereits nach wenigen Sekunden keine Chance mehr gab, auf Sat 1 lief eine Wissens-Show, auf VOX eine billige Krimiserie, die sie langweilig fand, Pro Sieben nervte mit einer Musikshow für Kids, das Erste zeigte eine Liebesschnulze, und im Zweiten lief ein Reportagemagazin. Mareike ließ das zweite Programm laufen, weil es sie am ehesten interessierte, und hörte mit halbem Ohr hin, wie der Moderator über die skandalösen Zustände auf deutschen Autobahnen berichtete, während sie sich Teller und Besteck zusammensuchte. Die Suppe war fast heiß, als der Moderator das nächste Thema, unaufgeklärte Kindermorde in Italien, ankündigte.
Mareike nahm die Suppe vom Herd und stellte den Ton lauter.
Der Bericht zeigte Sardinien, wo in den letzten fünf Jahren vier kleine Mädchen ermordet aufgefunden worden waren. Alle vier waren an verschiedenen Stränden an Land gespült worden, aber sie waren nicht ertrunken. Ihr Mörder hatte sie erschlagen und dann — wahrscheinlich von einem Boot aus — ins Wasser geworfen. Die Polizei hatte noch keinerlei Anhaltspunkt, wer der Täter sein könnte. Freiwillige DNA-Tests in der Umgehung der Orte, wo die Mädchen gewohnt hatten, brachten keine Ergebnisse.
Geht's den Kollegen in Italien also auch nicht anders als mir, dachte Mareike und fand den Gedanken einen Moment sehr tröstlich.
Als Nächstes berichteten die Reporter über kleine Jungen, die in der Toscana auf unerklärliche Weise verschwunden und nicht wieder aufgetaucht waren. Der deutsche Junge Felix war 1994 im Urlaub beim Spielen ganz in der Nähe des Ferienhauses verschwunden. Die Eltern hatten ein Haus hei Ambra in der Nähe von Montebenichi gemietet und mussten ohne Kind und unverrichteter Dinge nach Deutschland zurückkehren.
Ohne nachzudenken nahm Mareike ganz automatisch einen Stift und notierte sich die Namen der Orte. Ihre Suppe wurde kalt, während sie weiter zuhörte.
Filippo wohnte in dem kleinen Ort Badia a Ruoti, ebenfalls in der Nähe von Ambra.
1997 verschwand er auf dem Schulweg spurlos. Und schließlich Marco, der sich im Herbst 2000 am See mit seinen Freunden treffen wollte, dort aber nie ankam.
Das Magazin zeigte die wunderschöne Landschaft dieser Gegend und die Stellen, wo sich drei Jungen scheinbar in Luft aufgelöst hatten, ohne dass irgendjemand irgendetwas beobachtet hatte.
Bei der italienischen Polizei ging niemand davon aus, dass die Kinder noch lebten,
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