Der Kindersammler
einem Merian-Heft über Florenz, als sie ins Zimmer kam.
»Nanu?«, staunte Bettina lächelnd. »Seit wann interessierst du dich für Michelangelo und da Vinci?«
»Seit mir Kollege Mohrs den ganzen Tag was von der Toscana vorgeschwärmt hat. Ich war da noch nie. Du?«
Bettina schüttelte den Kopf.
»Was hältst du davon, wenn wir in den Herbstferien mal in die Toscana fahren? Ich bin echt neugierig geworden.« Das entsprach sogar der Wahrheit.
»Edda und Jan werden dir was husten, wenn du den ganzen Tag durch Kirchen und Museen rennst!«
»Ach was. Wir suchen uns ein kleines Ferienhaus auf einem malerischen Hügel mit traumhafter Aussicht, umgeben von Olivenhainen, Weinbergen und Zypressenwäldern..., wir können wandern und Fahrrad fahren, und außerdem kommt der Chianti in dieser Gegend aus der Wasserleitung.«
»Das ist ein Argument! — Aber so ganz ohne Mord und Totschlag? Hältst du das aus?«
»Natürlich«, log Mareike, ohne rot zu werden.
Bettina setzte sich auf Mareikes Sessellehne und umarmte sie. »Das hört sich absolut fantastisch an! Einfach zu schön, um wahr zu sein.«
Siena, Juni 2004
Als Anne gegangen war, stand Kai Gregori eine Weile unschlüssig in Siena auf der Straße herum und überlegte, was er mit dem angebrochenen Abend anfangen sollte. Gelangweilt malte er mit der Schuhspitze Kreise und Muster auf die Specksteine, mit denen die Straße gepflastert war, und merkte dabei, wie verschwitzt seine Füße in den Slippern waren, die er stets ohne Strümpfe trug. Eine Dusche wäre jetzt nicht schlecht, aber er wusste, dass er sich nur selten aufraffen konnte, noch einmal auszugehen, wenn er einmal zu Hause war. Und es war einfach noch zu früh, um zu Hause rumzusitzen.
Kai beschloss, kurz im Büro vorbeizugehen. Er überquerte zügig den Campo und bog direkt hinter dem Palazzo Pubblico in die Via del Porrione ein. Von außen sah er, dass die Fensterläden des Büros fest verschlossen waren, Monica war also bereits zu Hause. Umso besser.
Monicas Schreibtisch war so tadellos aufgeräumt, als wolle sie keine Fingerabdrücke hinterlassen. Dafür lagen auf seinem eigenen stets Akten, Fotos, Exposes, Briefe, Broschüren und Notizen herum, ein Durcheinander, das Monica jeden Abend stur zu einem Stapel aufschichtete, was ihn jedes Mal aufregte, aber wohl nicht mehr zu ändern war. Denn was Monica tun wollte und für richtig hielt, das tat sie. Da konnten sie keine Bitte, kein Befehl, keine Drohung und kein Erdbeben umstimmen.
An seinem Computerbildschirm klebten mehrere Nachrichten mit Monicas Handschrift: Die Schraders hatten sich beschwert, dass sie einen wertvollen Urlaubstag mit dem sinnlosen Besichtigen absurder Immobilien verloren hatten. — Zum Teufel mit den Schraders.— Dottore Manetti erwartete seinen Anruf morgen Vormittag um zehn, das Notariat für das Appartement in Castelnuovo Berardenga war am kommenden Dienstag um fünfzehn Uhr dreißig, und der Verkauf von Casa del Muro war für Donnerstag um zehn Uhr dreißig geplant.
Nichts weiter Wichtiges. Er knipste die Schreibtischlampe aus und verließ das Zimmer. In der Küche guckte er noch schnell in den Kühlschrank. Das Übliche. Zwei Tüten Milch, ein Stück Pecorino, drei Joghurt und eine offene Flasche Prosecco, in deren Hals ein silberner Teelöffel steckte, um die Kohlensäure nicht entweichen zu lassen. Für ihn waren das Humbug und fauler Zauber. Er probierte einen Schluck. Der Prosecco schmeckte bereits labberig. Daher nahm er die offene Flasche mit und verließ das Büro.
Auf dem Campo setzte er sich in der Nähe des Brunnens auf die Erde. Die Steine waren angenehm warm. Der Juni war ohnehin sein liebster Monat. Die Tage waren lang, aber der Sommer war noch frisch und jung und machte Lust auf mehr. Nicht so wie im August, wenn man die Hitze bereits satt hatte und sich der Sommer in seiner Schwüle und Schwere einfach nur klebrig und dumpf anfühlte.
Er trank den Prosecco langsam. In Momenten wie diesem war er nicht gern allein.
Er beobachtete die Paare, die Touristen, die Sienesen, die langsam vorbeischlenderten oder eilig einer Gasse zustrebten. Er hatte mit niemandem etwas zu tun. Wenn er jetzt hier auf dem Campo tot umfiele, dann würde das zwar auffallen, und irgendjemand würde die Ambulanza rufen, aber es würde auch niemanden wirklich kratzen. Er war ein Mensch, um den keiner trauern würde. Und obwohl er mitten in der Stadt wohnte, war er im Grunde auf dieser verfluchten Welt genauso allein wie ein Enrico,
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