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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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der sich ständig in irgendeinem Wald verkroch und heilfroh war, wenn niemand seinen Waldfrieden störte. Lag es an ihm, Kai, dass bisher noch keine Frau wirklich bei ihm bleiben wollte? Wahrscheinlich. Weil ihm jede nach einer gewissen Zeit auf die Nerven ging, weil jede irgendwann seinen eingefahrenen Trott störte und weil er kommentarlos tun und lassen wollte, was ihm gerade in den Kopf kam. Er wollte kein »wo kommst du denn jetzt her?« oder »du musst doch was essen« oder »das ist schon die zweite Flasche« hören. Er wollte nur hier auf dem Campo seinen Kopf in einen Schoß legen, auf die Dunkelheit warten, die Sterne zählen und schließlich schweigend, aber nicht allein nach Hause gehen. Dann vielleicht noch gemeinsam auf der Terrasse eine Flasche Rotwein trinken, irgendwann unvermittelt aufstehen und ins Bett gehen. Die Gläser stehen lassen bis zum nächsten Abend oder bis zum nächsten Gewittersturm, der sie kurzerhand auf die Straße fegen würde. Er wollte um Gottes willen niemanden um sich haben, der die Gläser automatisch mit in die Küche nahm, sie in die Spüle stellte und voll Wasser laufen ließ. Er wollte das grelle Licht der Küchenbeleuchtung nicht sehen, wenn er von der nächtlichen, mondbeschienenen Terrasse ins dunkle Schlafzimmer ging.
    Es wurde langsam dunkel. Die hohen Häuser, die den Campo begrenzten, waren bereits in weiches gelb-rötliches Scheinwerferlicht getaucht. Kai erhob sich mühsam. Vom Sitzen auf den harten Steinen taten ihm alle Knochen weh. Aber der Prosecco schmeckte nach mehr. Bis zur nächsten Bar waren es nur wenige Schritte.
    Als er nach Hause kam und sich mühsam am Treppengeländer hochzog, war es bereits halb zwei. Er hatte — wie immer — zu viel getrunken. Allerdings war er noch nicht betrunken genug, um nicht zu merken, dass in dieser Nacht in seinem Treppenhaus irgendetwas anders war als sonst. Augenblicklich gingen bei ihm alle Warnlampen an, er war hochkonzentriert und äußerst wachsam. Die Wirkung des Alkohols schien in diesem Moment komplett verflogen. Langsam und so leise wie möglich schlich er Stufe für Stufe höher und versuchte dabei zu erspüren, woher sein Unbehagen kam.
    Und plötzlich wusste er es. Es war der merkwürdige, Ekel erregende Geruch. Wie eine Mischung aus faulem Gras, Rattenpisse, saurer Milch und überreifen Feigen.
    Auf der letzten Treppenstufe vor seiner Wohnungstür saß Allora und grinste. Ihr oberer rechter Schneidezahn war pechschwarz.
    »Was suchst du hier?«, raunte er leise. Er hatte keine Lust, das ganze Haus aufzuwecken.
    Allora antwortete nicht, sondern kicherte.
    Er hatte insgeheim befürchtet, dass es irgendwann so kommen würde. Seit Wochen schlich ihm Allora hinterher. Wartete in Ruinen, versteckte sich hinter Bäumen und Büschen, lauerte an der Schotterstraße. Nur um ihn zu sehen, um einen Blick zu erhaschen. Wenn er sie entdeckt hatte, ignorierte er sie nach Möglichkeit, tat oft sogar, als würde er sie nicht bemerken. Den Gedanken an sie hatte er jedes Mal, wenn er wieder in Siena in seinem Büro oder zu Hause in seiner Wohnung war, erfolgreich verdrängt, obwohl er ahnte, dass es nicht beim Beobachten bleiben würde. Irgendwann würde es Allora sicher nicht mehr genug sein, ihn nur aus der Ferne zu verehren. Und jetzt war es so weit. Jetzt saß sie vor seiner Tür wie ein ausgesetzter Straßenköter.
    »Du kannst hier nicht bleiben«, sagte Kai. »Du kannst auch nicht in meine Wohnung.« Merkwürdigerweise fürchtete er sich plötzlich vor dieser verwahrlosten Kreatur.
    Er hatte den Satz kaum ausgesprochen, da begann Allora mit einem schrecklichen Gejaule, wie ein junger Hund, dem man bei lebendigem Leibe das Fell über die Ohren zieht. In Panik schloss er seine Tür auf und zog Allora in die Wohnung. Augenblicklich hörte das Geheul auf, und Allora schnaufte vor Erleichterung. Kai ging in die Küche, und Allora trabte hinterher. Kai nahm eine Tüte Orangensaft aus dem Küchenschrank, schnitt die Tüte auf und goss ein großes Glas randvoll.
    »Hier. Trink erst mal was.«
    Allora nahm das Glas gehorsam und trank den Saft in einem Zug aus. Sie strahlte und schmatzte vor Begeisterung, während sie sich immer wieder mit der Zunge über die Lippen fuhr.
    »Du musst baden«, sagte er. »So kannst du hier nicht bleiben. Du saust mir ja alles ein.«
    Ober Alloras Gesicht huschte ein Schatten von Traurigkeit, ihre fröhliche Stimmung war wie weggeblasen, aber sie nickte tapfer.
    Kai ging — gefolgt von Allora —

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