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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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vor Einbruch der Dunkelheit haben wir ihn zum Abendessen gerufen, aber er kam nicht. Wenige Minuten später setzte ein fürchterliches Gewitter ein, es war kalt und windig, es schüttete wie aus Eimern, Felix trug nichts weiter als Shorts und ein T-Shirt. Harald, mein Mann, ist sofort losgerannt, um ihn zu suchen. Er hat die ganze Nacht gesucht und noch weitere zwei Wochen. Rund um die Uhr. Aber er hat ihn nicht gefunden.«
    »Habt ihr die Polizei eingeschaltet?«, fragte Carla. Man sah ihr deutlich an, dass ihr das, was Anne sagte, sehr nahe ging.
    »Natürlich. Am nächsten Morgen haben Polizisten mit Hunden den ganzen Wald durchgekämmt, Taucher haben im See gesucht ... Die Aktion dauerte ein paar Tage, aber sie haben nichts gefunden. Nicht den geringsten Hinweis. Keine Spur. Nichts von seiner Kleidung. Gar nichts. Nach zwei Wochen mussten wir zurück nach Hause, und ich habe Felix bis heute nicht wieder ge sehen.«
    »Und das hältst du nicht aus«, flüsterte Carla. »Dieses Nichtwissen, was mit ihm passiert ist ...?«
    Anne nickte.
    »Jetzt bist du hier, weil du glaubst, dem Geheimnis vielleicht doch irgendwie auf die Spur zu kommen?«
    Anne nickte und blickte zu Boden.
    Carla legte ihre Hand auf Annes. Endlose Sekunden sagte niemand ein Wort. Anne starrte in ein Windlicht, in dem Mücken knisternd verbrannten. Und dann erzählte sie von den Ostertagen vor zehn Jahren, als Felix verschwand.
    Als sie fertig war, lief sie ins Haus, um ein Bild von Felix zu holen.
    Enrico wusste ganz genau, von wem sie sprach. Er hatte den besagten Karfreitag vor zehn Jahren, als ihm das Gewitter den Jungen geradezu in die Arme getrieben hatte, nie vergessen. Das gibt es nicht, dachte er fassungslos, das darf nicht wahr sein. Da habe ich vor wenigen Stunden das Haus an die Mutter dieses Jungen verkauft? Was für ein Wahnsinn! Und jetzt will sie hier leben ..., ganz in seiner Nähe?
    Anne kam mit dem Foto zurück und legte es auf den Tisch.
    »So sah er damals aus. Wenn ich nur wüsste, ob er noch lebt oder nicht. Ob er an diesem Karfreitag ermordet und irgendwo vergraben oder ob er entführt worden ist. Vielleicht haben ihn Kinderhändler irgendwohin verkauft oder er ist von einem internationalen Pornoring verschleppt worden. Kann ja alles sein. Er wäre jetzt zwanzig. Ich kann nicht trauern, ich kann ihn nicht beweinen, und ich kann keinen Frieden finden, wenn ich nicht weiß, was ihm passiert ist.«
    Carla sah lange auf das Bild. »Ich hab dieses Kind noch nie gesehen. Aber ich glaube, ich war 1994 über Ostern auch in Deutschland. Mein Vater hatte einen Herzinfarkt.«
    Sie reichte Enrico das Bild, der es stirnrunzelnd betrachtete. »Ich kenne den Jungen nicht«, sagte er kopfschüttelnd zu Anne, »aber ich helfe dir gerne suchen, wenn du willst.«
    Niemand kannte diesen Felix so gut wie er. Mehrere Tage hatte er mit ihm in der Mühle verbracht, aber er wusste es nicht mehr genau. Waren es zwei? Oder drei? Oder sogar vier?
    Eine Woche vor Ostern hatte er ihn bei einem Spaziergang zufällig in der Nähe von La Pecora am Bach spielen sehen. Von da an hatte er ihn tagelang beobachtet und bereits das Fläschchen mit dem Äther ständig dabei. Er wollte für den richtigen Moment vorbereitet sein. Dieser Junge faszinierte ihn. Er trug unglaublich ernsthaft und konzentriert Holzstücke und Stöcke zusammen, schleppte Steine heran und sammelte Moos, um den Bachlauf zu stauen und sich an dem kleinen, selbst geschaffenen See eine Höhle zu bauen. Er arbeitete tagelang unermüdlich, stand mit seinen dünnen weißen Beinen stundenlang im eisigen Bachwasser und sang manchmal vor sich hin. Immer dasselbe Lied. Ein Lied, das Enrico nicht kannte.
    An jenem Karfreitag war Felix ziemlich weit den Berg hinaufgestiegen, um noch mehr Holz zu suchen. Er war so eifrig und so beschäftigt, dass er vom Gewitter völlig überrascht wurde und auch das Rufen seiner Mutter nicht hörte.
    Enrico tauchte in dem Moment auf, als Felix bereits vollkommen durchnässt war, vor Kälte zitterte und schreckliche Angst vor Donner und Blitz hatte. Er wagte es nicht, über die Wiese zurück zum Haus zu laufen. Enrico war für ihn der Retter in der Not, und er vertraute ihm sofort. Enrico hatte keine Schwierigkeiten, ihn zu überreden, sich einige Minuten in sein Auto zu setzen, bis das Gewitter vorbei war. Dieser Junge war nicht misstrauisch wie Benja min. Er hatte keine Fluchtgedanken, Enrico musste ihn noch nicht einmal an die Hand nehmen. Er kam die paar Meter zum

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