Der Kindersammler
verschwunden, weil sie in der psychiatrischen Klinik in Siena sind.«
Enrico winkte ab. »Hier laufen viele komische Figuren rum, weil man in Italien nicht weggesperrt wird so wie in Deutschland. Wer nicht freiwillig in die Klinik geht, wird auch nicht eingeliefert. Die Eltern kümmern sich um solche Gestalten. Und wer alt und verrückt ist, wird einfach in Ruhe gelassen. Aber die Söhne von Giacomo halte ich für harmlos. Ich glaube, sie tun keiner Fliege was.«
»Das weiß man nicht. Das weiß man vorher nie. Erst wenn wirklich was passiert ist, sind hinterher alle schlauer.«
»Was soll ich tun?«, fragte Anne relativ hilflos. »Soll ich zu diesem Giacomo gehen und seine Söhne fragen, ob sie Ostern 1994 in La Pecora waren und meinen Sohn umgebracht haben? Das ist doch Blödsinn!«
»Wir könnten zumindest herausfinden, ob sie zu dieser Zeit in der Klinik waren oder nicht.«
»Harald hatte damals hunderte von Flugblättern an die Bäume gehängt und in den umliegenden Dörfern mit jedem gesprochen, den er getroffen hat. Niemand hatte etwas gesehen oder bemerkt.
Es war wie verhext. Nur einer alten Frau fiel ein paar Tage später ein kleiner blonder Junge in einem grauen Porsche auf.«
»Ein Alimentarihändler in Castelnuovo Berardenga fährt einen silbergrauen Porsche«, sagte Enrico. »Niemand weiß, wo er das Geld für diesen Wagen herhat. Die meiste Zeit steht der Porsche nur in seiner Garage hinterm Haus und wird von seinem Besitzer gehegt und gepflegt. Höchstens einmal im Monat fährt er damit nach Florenz. So langsam, dass er den ganzen Verkehr aufhält. Und jeder fragt sich, was er da in Florenz eigentlich zu suchen hat...«
»Woher weißt du das alles? Und warum erzählst du so was nie?« »Ich kann nicht das ganze dumme Zeug weitererzählen, das beim Baustoffhändler geredet wird. Da hätte ich ja viel zu tun.« Der Ton zwischen Enrico und Carla war gereizt.
»Wie heißt der Alimentarihändler?« Anne wollte beim Thema bleiben.
»Enzo Martini. Glaube ich. Sicher bin ich mir nicht, denn wir sind ja nur ganz selten in Castelnuovo Berardenga.«
»Aber was soll ich machen?« Anne merkte jetzt, dass alles anders war, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie war viel zu naiv gewesen. Es hörte sich so schön an: Ich fahre nach Italien und suche mein Kind. Ich fange da an, wo es vor zehn Jahren verschwunden ist. Irgendwo werde ich schon eine Spur, einen Hinweis finden, ich werde irgendwie herausfinden, was damals geschehen ist.
So hatte sie gedacht. Und jetzt wusste sie, wem ein silbergrauer Porsche gehörte, sie hatte von zwei schwachsinnigen Männern erfahren, die sinnlos in der Gegend herumfuhren und leicht durch Zufall einem kleinen Jungen im Wald hätten begegnen können, und doch kam sie nicht weiter. So etwas funktionierte im Film oder in Romanen — die Realität sah leider ganz anders aus.
Anne war vollkommen resigniert. Es war so sinnlos. Sie benahm sich wie eine Idiotin — sie hätte zu Hause in Friesland bleiben sollen. Und wahrscheinlich hatte auch Harald wieder mal Recht gehabt. Sie hätte damals dieses zweite Kind bekommen und ein neues Leben anfangen sollen. Es wäre jetzt acht. Vielleicht wäre es wieder ein Junge geworden. Ein fange wie Felix.
»Du kannst gar nichts machen«, unterbrach Enrico ihre Gedanken. »Eigentlich kann nur die Polizei wirklich etwas in Bewegung setzen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass nach zehn Jahren in dem Porsche noch eine verwertbare Spur zu finden ist.«
»Ich bin müde, ich glaube, ich gehe ins Bett.« Anne stand auf. Mit einem Mal war sie so deprimiert, dass es ihr schwer fiel, sich zu bewegen. »Gute Nacht. Und danke für alles.«
Sie ging in die Mühle und schloss die Tür von innen ab. Plötzlich stellte sie es sich schrecklich vor, bald im Tal allein zu sein.
58
Anne schlief sofort ein. In ihrem Traum sah sie sich festgeschnallt auf einem Operationstisch, gleißend helle Lampen blendeten sie, sodass sie nur mit Mühe die mit Mundschutz und Hauben vermummten Gestalten erkennen konnte, die sich über sie beugten. Sie hatte Angst. Panische Angst. Sie bäumte sich auf in ihren Gurten, ihre Hilflosigkeit brachte sie fast um den Verstand. Was macht ihr mit mir? Sie wollte schreien, aber es kam nur ein Röcheln. Die Gestalten beugten sich tiefer. Sie war sicher, dass sie grinsten, obwohl sie es nicht sehen konnte. Ich hin gesund, was soll das? Tränen schossen ihr in die Augen, vielleicht hatten sie Mitleid.
Plötzlich erkannte sie ihn. Es
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