Der Kindersammler
worden.
»Mein Vater war Hafenarbeiter in Palermo«, erklärte er ohne zu zögern. »Meine Eltern hatten eine winzige Wohnung am Meer, die ich aber nur von Fotos kenne. Erinnern kann ich mich daran nicht, denn als ich drei Jahre alt war, fing mein Vater ein Verhältnis mit der Bedienung einer kleinen Fischbraterei an, und meine Mutter ging mit mir zurück nach Deutschland. Sie war so wütend und verletzt, dass sie nie wieder ein Wort Italienisch sprach.«
»Ich dachte, Ihr Vater verunglückte tödlich, als er vom Gerüst fiel?«, meinte Fiamma irritiert.
»Nein, nein.« Enrico schenkte Fiamma sein charmantestes Lächeln. »Er brannte mit dieser Frau durch. Aber für meine Mutter war er so gut wie tot, und sie schämte sich auch, verlassen worden zu sein, deshalb erzählte sie lieber die erfundene Geschichte von einem Unglück. Und ich habe die Geschichte manchmal übernommen, ohne mir viel dabei zu denken.«
Dieses schwere Schicksal, verbunden mit einer Notlüge der armen Verlassenen, beeindruckte Fiamma noch mehr. »Sie Armer!«, schmachtete sie. »Was hatten Sie doch für eine schreckliche Vergangenheit! Haben Sie noch Kontakt zu Ihrem Vater?«
»Nein, er ist seit zehn Jahren tot«, sagte Enrico. »Er wurde im Hafen von einem herabstürzenden Container erschlagen.«
Fiamma verstummte. Hatte dieser junge Makler also doch die Wahrheit gesagt. Sie war eigentlich davon ausgegangen, belogen worden zu sein. Aber das, was Enrico alles erzählte, glaubte sie sofort, und es rührte sie zutiefst.
»Ich werde Sie in Casa Meria ab und zu besuchen, wenn ich darf?«, meinte Fiamma zuckersüß und fuhr sich mit dem angefeuchteten Mittelfinger unter den Augen entlang, um eventuell verschmiertes Make-up wegzuwischen.
»Aber natürlich«, log Enrico, »Sie sind jederzeit herzlich willkommen.« Dabei war diese Ankündigung für ihn die schlimmste Drohung, die Fiamma aussprechen konnte. Überraschungsbesuche konnte er überhaupt nicht gebrauchen, wenn er ein neues Haus baute. Auch Anne war ein Unsicherheitsfaktor. Sie würde einsam sein in Valle Coronata und sich langweilen. Sicher würde sie ab und zu auf die Idee kommen, ihn und Carla zu besuchen. Es gab nur einen Ausweg: Er musste sein Handy von nun an den ganzen Tag über eingeschaltet lassen, damit sich etwaige Besucher vorher anmelden konnten. Obwohl er nichts so sehr hasste, als wenn das Telefon klingelte. Außerdem bestand die Gefahr, dass Carla anfing zu telefonieren, sich zu verabreden, mit irgendjemandem zu treffen und dummes Zeug zu erzählen. Das wollte er nicht. Das musste er verhindern. Noch hatte er keine Idee was er machen konnte, aber er befürchtete, dass er nie wieder so ungestört leben würde wie in Valle Coronata, und das machte ihn nervös. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, das Tal zu verkaufen.
57
Carla hatte den Tisch gedeckt, eine Flasche Wein aufgemacht und Panzanella vorbereitet, ein bäuerliches Resteessen, das Enrico besonders liebte: altes Weißbrot, aufgeweicht, ausgedrückt und zerkrümelt, dazu Zwiebeln, Tomaten, Sellerie, Basilikum, Salz, Pfeffer, Essig und Öl. Das Ganze ergab einen sommerlichen Brotsalat, der würzig, säuerlich und frisch schmeckte und noch dazu satt machte. Der Pfiff einer Panzanella war allerdings der Thunfisch, der ebenso hineingehörte, den Carla aber weglassen musste, da Enrico ihn nicht aß.
Er verabscheute die brutalen Fangmethoden der Thunfischfänger und wollte nicht schuld sein am Tod und Leid der Fische.
»Ist es passiert?«, fragte Carla kühl, als Enrico und Anne den Weg heraufkamen.
»Ja, es ging alles völlig problemlos.« Enrico wirkte erleichtert.
»Glückwunsch«, meinte Carla vollkommen resigniert zu Anne.
Anne umarmte Carla, die es mit sich geschehen ließ. »Ich bin so glücklich... , und es tut mir so Leid, dass du darunter leidest.«
»Schon gut«, sagte Carla. »Man kann nicht alles haben.« Sie goss in jedes der Gläser ein bisschen Wein. »Lasst uns zur Feier des Tages anstoßen. Weil wir jetzt obdachlos sind.«
»Irrtum«, sagte Enrico, »wir sind jetzt Besitzer einer wunderschönen, bis auf die Grundmauern heruntergebrannten Ruine.« Er fand Gefallen an seiner Ironie, Carla blieb ernst. Die drei prosteten sich zu und tranken einen Schluck.
»Ach übrigens«, meinte Carla zu Enrico, »in der Mühle ist eine Schlange. Ich habe die Türen zugemacht, damit sie nicht raus kann. Vielleicht fängst du sie, bevor wir die ganze Flasche Wein ausgetrunken haben.«
»Aber es wäre doch
Weitere Kostenlose Bücher