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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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gar nicht verkehrt, wenn sie wieder rauskriecht?« Anne leuchtete Carlas Logik nicht ganz ein. »Oh, mein Gott, ich muss da heute Nacht schlafen!«
    »Tja«, meinte Carla, und zum ersten Mal lächelte sie sogar, »das gehört alles auch zum Leben in Valle Coronata.« Sie ging ins Haus und kam unmittelbar danach mit zwei großen, selbst abgefüllten Wasserflaschen wieder. »Es ist doch ganz einfach. Wenn ich die Tür zumache, weiß ich, dass die Schlange noch da ist. Lasse ich sie offen, bin ich ewig unsicher, wenn Enrico sie nicht auf Anhieb findet. Ich kann ja nicht stundenlang dasitzen und die Tür beobachten!«
    Anne nickte. Sie hatte sowohl den Seitenhieb als auch den Grund für Carlas Verhalten verstanden.
    »Was für eine Schlange?«, fragte Enrico. »Eine Natter oder eine Viper?«
    Carla zuckte die Achseln. »Genau weiß ich das nicht. Aber sie ist ziemlich lang. Wird wohl eine Natter sein. Eine Zornnatter vielleicht.« Sie wandte sich an Anne. »Die Zornnattern greifen sofort an und beißen fürchterlich. So ein Biss gibt ekelhafte Wunden, die nur schwer heilen, aber er ist wenigstens nicht giftig.«
    Enrico rannte los. Er holte einen großen Pappkarton und einen Stock aus dem Magazin und stürmte in die Mühle. Anne folgte langsam.
    »Wie tötest du sie? Mit diesem Stock? Wäre ein Spaten nicht besser?«
    »Ich töte sie gar nicht«, sagte Enrico. »Ich fange sie und bringe sie zurück in den Wald. Und hoffe, dass sie nicht so bald wiederkommt.«
    Anne seufzte. In dieser Nacht würde sie weniger gut schlafen. Enrico durchsuchte die Mühle Stück für Stück, Meter für Meter. »Bleib in der Tür stehen«, rief er Anne zu. »Und wenn sie ab haut, sag mir Bescheid.«
    Es dauerte zwanzig Minuten, bis er die Schlange fand, die sich zwischen einer Bücherkiste, einem Holzkorb und der Kaminumrandung zusammengerollt hatte. Es war unmöglich, sie in dieser Position in den Pappkarton zu bugsieren. Also scheuchte er sie auf und stupste sie mit dem Stock so lange, bis sie sich nicht länger zusammenrollte, sondern endlich Flüchtete. Sie schlängelte sich an einem Regal hoch, wand sich um eine tönerne Löwenstatue und versuchte dann, über den Teppich in Richtung Treppe zu Flüchten. Enrico schnitt ihr mit dem Stock immer wieder den direkten Weg ab, bis sie keine andere Chance mehr hatte und in den Pappkarton kroch. Enrico riss den Pappkarton hoch, lief aus der Mühle und rannte im Laufschritt den Berg hoch in den Wald.
    Anne ging zu Carla und setzte sich zu ihr unter den Nussbaum an den Tisch.
    »Manchmal ist es gut, einen Mann im Haus zu haben«, sagte Carla leise und fischte einzelne Selleriestückchen aus der Panzanella.
    »Und manchmal ist es besser, keinen im Haus zu haben«, meinte Anne.
    Carla musste lächeln, Anne ebenfalls. Das Eis war gebrochen.
    Als die Sonne untergegangen war, wurde es schlagartig sehr kühl. Anne und Carla zogen sich nach dem Essen dicke Jacken und dicke Socken an, um draußen sitzen bleiben zu können. Enrico blieb barfuß und im kurzen Hemd und behauptete, nicht zu frieren. Es regnete nicht, aber ein böiger Abendwind wehte ums Haus, sodass die Tischdecke mit Steinen beschwert werden musste. Der Nussbaum rauschte und erinnerte Anne an windige Tage am Meer.
    Carla kochte heißen Tee und holte Butterkekse aus der Küche. Enrico saß weit zurückgelehnt auf seinem Stuhl und hatte die Augen geschlossen, als meditiere oder träume er. Carla goss Enrico, Anne und sich Tee ein und faltete erwartungsvoll die Hände.
    »Warum bist du hier?«, fragte sie. »Warum hast du Valle Coronata gekauft? Ich versuche gerade, mich mit dem Gedanken anzufreunden, irgendwo anders wieder ganz von vorn zu beginnen, und wenn es Enrico Spaß macht, wieder ein Haus aufzubauen, dann ist es auch gut so ... Aber ich wüsste doch gerne, warum eine Frau wie du sich hier in dieser Dunkelheit und Einsamkeit verkrie chen will. Ohne Mann, der einem die Schlangen aus dem Zimmer fängt.«
    »Ich habe vor zehn Jahren meinen Sohn verloren«, sagte Anne leise. »Felix. Er war zehn Jahre alt. Ein kleiner, zarter, blonder Junge. Wir haben Urlaub in La Pecora gemacht, das ist nicht weit von hier.«
    »Ich kenne La Pecora«, bemerkte Carla schnell, um Anne nicht zu unterbrechen. »Enrico hat es restauriert.«
    Enrico schlug die Augen auf. Anne sah ihn an, aber er erwiderte ihren Blick nicht, sondern starrte in die Dunkelheit.
    »Es war Karfreitag 1994. Felix hat draußen am Bach gespielt, circa hundert Meter vom Haus entfernt. Noch

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