Der Kindersammler
war Enrico, der den Mundschutz herunterzog, seine Brille abnahm und auf die Gläser spuckte. Anschließend verrieb er den gelblichen, undurchsichtigen und sehr zähen Speichel zu einem klebrigen Brei.
»Deine Mutter hatte einen Unfall«, sagte er und setzte die Brille, durch die seine Augen nun nicht mehr zu sehen waren, wieder auf. »Wir werden dir jetzt ihr Herz verpflanzen.«
Annes Augen weiteten sich vor Entsetzen, das grelle Licht machte sie blind, die Lampen drehten sich, immer schneller und schneller, bis sie zu einem Strudel wurden und in einem winzigen roten Punkt verschwanden.
Sie wollten sie töten.
Sie wimmerte. »Warum? Ich bin gesund. Bitte, gebt ihr Herz einer anderen!«
»Hast du ihr Testament nicht gelesen?« Die Frage erschreckte sie, und sie fühlte sich, als hätte man soeben einen Scheiterhaufen unter ihr entzündet.
»Aber ich bin gesund!« Anne glaubte zu ersticken, sie wollte sich bewegen, aber sie konnte nicht. Nur flüstern konnte sie noch. »Ich bin noch jung. Was soll ich mit dem Herz einer alten Frau? Enrico. Hilf mir! Tu mir das nicht an!«
»Sie wollte es so. Du sollst werden wie sie.«
»Nein!« Anne hatte keine Kraft mehr. Die Spritze kam immer näher. In Haralds Augen, die sie jetzt ohne Schwierigkeiten ebenfalls erkannte, blitzte der Triumph. Sie überlegte fieberhaft, ob es noch einen Ausweg geben könnte.
»Harald, wenn du mir hilfst, bleibe ich bei dir. Nur bei dir. Ich verkaufe das Haus in Italien. Vielleicht werden wir noch ein Kind haben. Ich werde es versuchen, das verspreche ich dir!«
Aber die vermummte Gestalt, die Harald war, schüttelte den Kopf und sagte kein einziges Wort. Auch der Mundschutz bewegte sich nicht, fast so, als bräuchte er keinen Atem. Gnadenlos und unerträglich langsam schob ihr Enrico die Nadel in die Vene.
Er war ihr Henker. Ihr wurde schwindlig. Die Zunge fiel ihr aus dem Mund.
Ich bin tot, dachte sie, so ist das also. So einfach.
Schweißgebadet wachte Anne auf. Ihr T-Shirt war feucht und klebte am Körper. Sie spürte einen leichten Luftzug, der vor allem in Bodennähe wehte, da die Tür nicht dicht war. Zwischen Tür und Boden war ein zwei bis drei Zentimeter breiter Spalt. Anne fröstelte. Sie stand auf und schaltete das Licht an. Draußen schrie ein Vogel erschrocken auf. In ihrer Reisetasche fand sie ein frisches T-Shirt und zog es über. Dann öffnete sie die schwere Bodenklappe, hakte sie an der Wand fest und stieg langsam die primitive Holztreppe ins untere Mühlenzimmer hinab.
Es war dunkel. Sie fluchte, weil sie keine Taschenlampe dabeihatte. Sie würde sich eine kleine Lampe kaufen, die sie immer in der Hosentasche mit sich herumtragen konnte. Dieses Tal war das schwarze Loch dieser Erde. Ohne Lampe war man verloren.
Der geringe Lichtschein von oben beleuchtete nur die ersten Treppenstufen. Sie musste unbedingt sämtliche Glühbirnen in beiden Häusern austauschen, Enrico hatte fast überall nur Fünfundzwanziger eingeschraubt, um Strom zu sparen. Mit Licht konnte er sowieso wenig anfangen.
Am Ende der Treppe tastete sie sich langsam an der Wand entlang, um den Lichtschalter zu erfühlen. Dabei betete sie, nicht in einen der Skorpione zu fassen, die überall in den Ritzen saßen, an den Decken klebten und in Schuhen, Pullovern und Handtüchern Unterschlupf suchten. Anne schwor sich, gleich am nächsten Morgen die Mühle Millimeter für Millimeter abzusaugen und hoffentlich alle Skorpione, Spinnen und Tausendfüßler, die hier über dimensionale Ausmaße hatten, auszurotten. Carla lehnte solche Aktionen ab. Sie tötete keine Spinne, keinen Skorpion, keinen Ohrenkneifer und keinen Tausendfüßler — da war sie genau wie Enrico. Manchmal trug sie Skorpione, die sie zum Beispiel in einem Topf oder in einer Tasse fand, in den Garten, aber meistens ließ sie die Tiere, wo sie waren. Daher hatten sie sich in den letzten Jahren ungehindert ausbreiten und vermehren können und hatten die beiden Mühlenhäuser voll im Griff.
Das Licht aus dem Mühlenzimmer beleuchtete die kleine Terrasse vor dem Naturpool notdürftig. In der Nacht war das Wasser schwarz und kräuselte sich leicht im Wind. Anne dachte an die Schlangen, Frösche und Molch, die sich in dem schwarzen Wasser und dem dichten Algenwuchs am Rand versteckten. Irgendwann werde ich hier an dieser Stelle einen richtigen Pool bauen, dachte sie, einen, der hell und blau gestrichen ist und glasklares Wasser hat. Ein bisschen Chlor und eine Umwälzpumpe, die das Wasser ständig
Weitere Kostenlose Bücher