Der Kindersammler
küsste sie auf den Mund, bevor sie mit dem Tablett im Haus verschwand.
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Allora wollte unbedingt wissen, wer jetzt in Valle Coronata wohnte, seit der Mann mit der Forke und der blonden Frau in das Haus ihrer Nonna gezogen war. Außerdem war sie neugierig, ob sich in all den Jahren , in denen sie nicht mehr da gewesen war, irgendetwas verändert hatte.
Auf dem Weg nach Valle Coronata hatte sie sich einen Splitter in den Fuß getreten. Sie saß auf einem Baumstumpf, saugte an ihrem großen Zeh und fluchte leise. Dann lief sie weiter. So lange, bis sie den Schmerz nicht mehr spürte.
Das Tal lag still und friedlich da, so wie sie es in Erinnerung hatte. Die Blumen blühten wie frühes nur die Rosmarin-, Lavendel- und Salbeibüsche waren riesig geworden und reichten inzwischen bis ans Küchenfenster.
Allora hockte sich in ihr altes Versteck, das sie problemlos wiederfand, und wartete. Vielleicht schlief ja jemand im Haus. Sie stand auf und ging ein Stück weiter, bis sie den Parkplatz im Blick hatte. Dort sah sie lediglich einen kleinen alten Fiat, dessen Reifen bereits mit Unkraut umwuchert waren. Mit diesem Auto war lange keiner mehr gefahren. Offensichtlich war wirklich niemand im Haus.
Allora lief geduckt durch den Wald, der dem Haus gegenüber direkt an den Bach grenzte, und ließ das Haus nicht aus den Äugen. Ab und zu blieb sie stehen und horchte. Nichts. Kein Laut. Nichts rührte sich.
Heute waren die Fenster und Türen genauso geschlossen wie damals, aber heute war kein leises Jaulen zu hören.
Vom Parkplatz her schlich sie vorsichtig zum Haus, kletterte zuerst die toscanische Treppe hoch und sah ins Schlafzimmer. Das Bett unter einem riesigen Moskitonetz war ordentlich gemacht, eine beigefarbene Leinendecke mit eingewebtem Muster lag darüber. Auf der Kommode dem Bett gegenüber waren ein Spiegel aufgestellt und Schminkutensilien aufgereiht.
Allora schlich weiter. Ins Wohnzimmer konnte sie nicht hineinsehen, dafür hätte sie eine Leiter gebraucht. Das Gästezimmer war ebenso aufgeräumt wie das Schlafzimmer, unmöglich zu sagen, ob in dem Bett in den letzten Tagen jemand geschlafen hatte oder nicht.
Dann sah Allora in die Küche und erstarrte. Sie leckte die leicht staubige Scheibe ab, um besser sehen zu können. Auf dem Foto über der Sitzecke erkannte sie den kleinen Jungen, den der Mann, den sie einmal Engel genannt hatte, auf den Armen getragen und im ausgetrockneten Teich, in dem jetzt wieder Wasser war, einbetoniert hatte. Ihr Herz klopfte wie wild. Sie versuchte zu verstehen, warum sie hier in dieser Küche das Bild dieses Jungen sah, aber sie konnte nicht denken, hatte das Gefühl, als sei ihr Kopf mit Watte ausgestopft. Vor Wut und Verzweiflung schlug sie mit der Stirn gegen die Scheibe, fester, immer fester, und sie spürte dabei keinen Schmerz. Erst als die Scheibe der Tür zerbrach und ihr das Blut übers Gesicht lief, kamen langsam die ersten Gedanken wieder, die sie zu sortieren versuchte. Sie hieß Allora. Die Sonne schien, und es war heiß. Sie war im Wald, im Tal, und das Haus war leer. Niemand war da, und niemand hatte sie gesehen. Allora brach einige her vorstehende Glassplitter aus dem Rahmen, die sie noch hätten verletzen können, und kroch durch die Öffnung ins Innere der Küche.
In der Spüle standen zwei benutzte Espressotassen. Irgendjemand hatte hier heute Morgen Kaffee getrunken.
Allora tat das, was sie auch im Wald machte. Sie ging auf die Knie und durchschnüffelte das ganze Haus. Ein leichter Duft schwebte in der Luft. Der Duft gefiel Allora. Aber sie roch auch angefaulten Salat im Komposteimer, Käse im Kühlschrank, Staub auf dem Geschirrregal und Schimmel unter der Spüle. Sie roch die verbrannten Spinnweben in der Steckdose, die vor kurzem noch benutzt worden war, sie roch das Wachs auf den Mattoni, die Feuchtigkeit in den Gardinen, roch die einzige Nuss im Korb, die ranzig war, und im Bett den spezifischen Geruch einer Frau.
Dann ging sie langsam wieder zurück in die Küche und nahm vorsichtig Felix' Bild vom Haken.
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Der Mann war nicht da, da war sie ganz sicher. Während sie im Gebüsch saß und das Haus beobachtete, hatte die blonde Frau unaufhörlich Steine in einer Schubkarre zusammengesammelt, zum Weg gefahren, ausgeschüttet und dann fein säuberlich verteilt, sodass ohne große Zwischenräume Stein an Stein passte. Offensichtlich wollte sie den Weg vor dem Haus pflastern. Sie schwitzte, und sie tat Allora Leid, weil Allora wusste, wie lang der
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