Der Kindersammler
nicht. Sie wusch Wäsche und topfte eine Geranie um, nur um irgendetwas zu tun. Sie zupfte Unkraut aus dem Kies im Hof, obwohl sie sich blöd dabei vorkam. Sie setzte sich auf der oberen Terrasse vor dem Schlafzimmerfenster in einen Liegestuhl und versuchte zu lesen, aber schlug das Buch jedes Mal spätestens nach einer Viertelstunde wieder zu, weil sie sich auf keinen einzigen Satz konzentrieren konnte. Sie ging spazieren und fürchtete sich bei jedem Schritt vor der immer näher kommenden Nacht.
Sobald dann die Sonne hinter den Bergen versank und die Dämmerung hereinbrach, ging sie ins Haus, setzte sich an den Küchentisch und verzweifelte fast, wenn sie an den langen Abend dachte. Das Tal war ihr wie ein Paradies vorgekommen, als sie abends mit Carla und Enrico unter dem Nussbaum gesessen, geredet, gegessen, getrunken und gelacht hatte. Jetzt, so allein, war es die Hölle.
Stille und Einsamkeit empfand sie wie eine dicke Decke, die über ihr lag und ihr die Luft zum Atmen nahm. Das hatte sie nicht so empfunden, als sie mit Enrico im Tal Probe gewohnt hatte.
Kein Lebewesen war in ihrer Nähe, kein Laut war zu hören, nur der Wasserfall rauschte ungerührt Tag und Nacht.
Es war ein Fehler gewesen, Valle Coronata so überstürzt zu kaufen, ein riesengroßer Fehler. Das wurde ihr jetzt schmerzlich bewusst.
»Da bin ich ja heilfroh«, sagte Kai. »Ich hatte schon befürchtet, du könntest deinen Entschluss vielleicht bereits bereuen.« Er nahm ihre Hand. »Ich habe heute den ganzen Tag Zeit, lass uns irgendetwas Schönes unternehmen. Du musst ja hier auch mal raus.«
Anne nickte. Etwas Besseres konnte sie sich im Moment überhaupt nicht vorstellen. Sie war Kai unendlich dankbar.
In den letzten vier Wochen hatte sie sich mehrmals mit Kai getroffen, hatte ein paarmal bei ihm übernachtet. Er war ein guter Liebhaber und ein angenehmer Unterhalter, sie amüsierte sich gut mit ihm, in seiner Gegenwart konnte sie für ein paar Stunden vergessen, weshalb sie eigentlich hier war. Sie fühlte sich sicher und frei in seiner Nähe, viel jünger, als sie eigentlich war, und ungeheuer weiblich. Viele gute Gründe, die Beziehung aufrechtzuerhalten. Sie überlegte oft, ob sie eigentlich in Kai verliebt war, aber sie wusste es nicht genau. Wenn sie Sehnsucht nach ihm hatte oder wenn sie sich auf ihn freute, fühlte es sich fast so an. Vielleicht war Verliebtsein anders, wenn man kein junges Mädchen mehr war. Sie kannte die Mechanismen einer Beziehung nur allzu gut, da gab es kaum noch Überraschungen.
Tagsüber wollte sie Kai nicht stören, aber abends hatte sie immer große Lust, ihn anzurufen. Doch dazu hätte sie im Dunkeln den Berg hinaufsteigen müssen, und das wagte sie nicht. Allein die Tatsache, dass im Tal kein Handyempfang war und das Telefon gar nicht klingeln konnte, machte sie ganz verrückt.
»Ich glaube, ich brauche einen Fernseher«, meinte sie plötzlich völlig unvermittelt. »Es ist schrecklich, wenn man nie eine menschliche Stimme hört. Und wenn es nur die des Tagesschausprechers ist. Außerdem weiß ich überhaupt nicht mehr, was in der Welt passiert. Wenn irgendwo eine Atombombe hochgeht — hier kriegt man es garantiert nicht mit.«
»Ich kann mich für dich drum kümmern. Ich kenne jemand, der Satellitenschüsseln installiert.«
»Und?«, fragte er nach einer Pause. »Hast du wegen Felix schon irgendwas unternommen? Ich habe das Foto in der Küche gesehen, es ist wunderschön!«
Anne nickte. »Ja, es ist toll, das find ich auch. Aber unternommen hab ich noch nichts. Vielleicht sollten wir Kontakt zu den Familien der anderen beiden verschwundenen Kinder aufnehmen. Ich weiß nicht, was dabei rauskommen soll, aber versuchen sollten wir es. Kannst du mir helfen? Mein Italienisch reicht niemals für derartige Gespräche.«
»Natürlich. Die Frage ist nur, wie wir an die Adressen kommen. Wir könnten den Pfarrer fragen, oder die Carabinieri ...«
»Oder wir versuchen es in der Bar. Da erfährt man normalerweise alles«
»Stimmt«, sagte Kai und biss in einen Apfel. »Die Idee ist klasse. Aber jetzt sag mir erst mal, wo wir heute hinfahren. Nach Montalcino? Nach Pienza? Nach San Gimignano? Was kennst du noch nicht?«
»Lass uns nach Montalcino fahren«, sagte Anne und stand auf. »Da kann ich ein bisschen Wein kaufen. Aber ich habe eine Bedingung.«
»Kein Problem.«
»Wenn wir wiederkommen, übernachtest du bei mir in Valle Coronata. Einverstanden?« »Einverstanden.«
Kai beugte sich vor und
Weitere Kostenlose Bücher