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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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Da kommt jemand, dachte sie, werd jetzt nicht sonderbar und hör auf zu spinnen, das ist völlig normal.
    Wahrscheinlich sind es nur Spaziergänger oder ein Liebespaar, das einen schönen Platz für ein Picknick sucht. Wenn du bei jedem Motorengeräusch Panik kriegst, musst du zurück nach Deutschland oder in die Therapie. Vielleicht hat sich auch jemand verfahren, will dich besuchen oder will dir etwas sagen. Schließlich bist du telefonisch nicht zu erreichen.
    Es war überhaupt nichts Außergewöhnliches, dass auf Waldwegen Autos fuhren. Kein Mensch war dadurch irritiert. Nur hier in Valle Coronata erschien es wie eine Bedrohung.
    »Hallo Anne«, sagte Kai, als er aus seinem schwarzen Jeep stieg. »Ich hoffe, ich komme nicht zu früh und nicht ungelegen, aber du bist nun schon eine halbe Ewigkeit allein in diesem gottverlassenen Tal, und ich habe nichts von dir gehört. Und da hab ich mir Sorgen gemacht, und Sehnsucht hatte ich auch.« Er atmete tief aus nach dieser Rede und grinste charmant.
    »Nicht eine halbe Ewigkeit, eine Woche! Aber es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Da hast du Recht.«
    »Du siehst wundervoll aus. Die Einsamkeit bekommt dir gut!« Er küsste sie auf beide Wangen.
    »Danke für die Blumen.« Anne glaubte ihm kein Wort, sondern fühlte sich schrecklich unattraktiv in ihren verwaschenen Jeans und mit den nassen Haaren. »Wenn du Kaffee kochst, mach ich mich schnell fertig.«
    Sie gingen ins Haus, und Anne rannte die enge Treppe zum Schlafzimmer hinauf.
    Kai sah sich in der Küche um. Sie war perfekt aufgeräumt. Anne hatte nur unwesentliche Dinge verändert, aber es erschien ihm alles sehr viel sauberer als vorher. Vielleicht lag es auch daran, dass jetzt in der Küche Licht brannte, während bei Enrico immer alles dunkel gewesen war.
    Dort, wo das Bild von Carla über der Sitzecke gehangen hatte, hing jetzt ein Foto von Felix. Er stand in Badehose am Strand von Kreta, hatte entschlossen die Unterlippe vorgeschoben, grinste fröhlich und spannte stolz und auch ein wenig ironisch die winzigen Muskeln seiner spindeldürren Ärmchen. Das Bild war bei ihrem letzten Griechenlandurlaub gemacht worden, neun Monate vor Felix' Verschwinden.
    Das Bild faszinierte Kai. Es strahlte so viel Lebenslust, Mut und Entschlossenheit aus, Kai konnte sich gut vorstellen, was Felix für ein zartes, aber vergnügtes Kind gewesen war. Er hatte sich schon mehrmals den Kopf zerbrochen, wie er Anne bei ihrer ausweglosen Suche nach Felix helfen konnte, aber es fiel ihm keine Strategie ein. Es war einfach zu lange her.
    Als Anne umgezogen und mit geföhnten Haaren zurück in die Küche kam, zischte der Espressokocher, und Kai war gerade dabei, die Milch in einer kleinen Kanne aufzuschäumen, in der sie mit einem engen Sieb, das man hoch- und runterdrückte, quasi gestampft wurde.
    »Lass uns auf die Terrasse gehen«, sagte Anne und stellte Espressotassen, Zucker, eine Flasche Mineralwasser und einen Früchtekorb auf ein Tablett.
    Unter dem Nussbaum war es um diese Zeit noch sehr schattig.
    »Es tut mir Leid, dass ich mich so lange nicht hab blicken lassen«, meinte Kai. »Aber ich hatte viel Arbeit, habe ein Haus in der Nähe von Greve im Chianti verkauft und eins am Meer in Castiglione della Pescaia und musste ständig hin und her fahren. Und fahr mal von Siena aus kurz ans Meer, da ist der halbe Tag weg.«
    »Ich weiß.«
    »Und du? Wie ist es dir ergangen, hier so allein?« Er wusste nicht, warum, aber Anne kam ihm irgendwie verändert vor. Ruhiger, in sich gekehrter. Und auch ein bisschen blasser, was bei dem heißen Sommerwetter eigentlich ungewöhnlich war.
    »Es war okay. Nicht direkt einfach, aber okay.«
    »Erzähl.«
    »Es war ungewohnt. Und so unglaublich still. Als Carla und Enrico noch hier waren, konnte man doch immer ab und zu mal was sagen, wir haben ja nicht stundenlang geschwiegen. Und plötzlich war da nichts mehr. Nur Stille. Ich kam mir ein bisschen komisch vor. Aber Angst hatte ich eigentlich nicht. Ich dachte, nachts kriege ich die große Panik, aber das passierte gar nicht. Ich hab geschlafen wie ein Bär und bin Gott sei Dank immer erst aufgewacht, als es schon hell war.«
    Dass die permanente Angst vor irgendetwas Ungewissem sie fast um den Verstand brachte, erzählte sie Kai nicht. Tagelang wusste sie deswegen nichts mit sich anzufangen. Sie versuchte, sich zu beschäftigen, um zu vergessen, wo sie war, aber es gelang ihr nicht. Sie ging in die Küche, kochte sich einen Espresso und trank ihn

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