Der Kindersammler
unsicher setzte sie sich zu Anne an den Tisch.
»Nimm dir«, sagte Anne freundlich. »Was möchtest du? Kaffee? Milch? Brot? Marmelade? Frische Feigen?«
Allora trank hastig Milch direkt aus der Kanne und rülpste laut. Dann nahm sie einen Löffel und begann, langsam Honig aus einem Zweilitereimer zu löffeln. Dabei strahlte sie und schmatzte wohlig wie ein Bär, der einen Bienenstock ausräumt.
»Du kannst jederzeit herkommen, Allora«, sagte Anne. »Du bist immer willkommen. Verstehst du das?«
Allora nickte und schaufelte weiter den Honig in sich hinein, sodass Anne vom bloßen Zusehen übel wurde.
»Iss, so viel du magst«, meinte Anne und ging ins Haus auf die Toilette. Ich werde sie nach Felix fragen, dachte sie, immer und immer wieder. Ganz sanft. Ohne Druck. Ich will verstehen, warum sie Rosen ins Wasser wirft und warum sie auf das Wasser gezeigt hat, als wir nach Felix fragten. Es ist einfach verhext, dass Allora nicht spricht! Will sie etwa andeuten, dass Felix im Pool ist? Das kann nicht sein! Enrico hat den Pool gebaut. Das kann wirklich nicht sein! Aber was will sie dann?
Als Anne zurück auf die Terrasse kam, war sie ganz sicher, dass sie auch der schweigenden Allora ihr Geheimnis entlocken konnte und hatte sich einen groben Plan zurechtgelegt, was sie Allora fragen wollte.
Aber Allora saß nicht mehr am Tisch. Allora war fort und mit ihr der Zweilitereimer Honig.
79
Kai und Anne waren allein im Büro. Monica war heute früher nach Hause gegangen, weil sie angeblich Kopfschmerzen hatte, aber Kai wusste, dass sie einen sizilianischen Frisör kennen gelernt hatte, dem sie die Stadt zeigen wollte. Kai hatte gestern schon gemerkt, dass irgendetwas nicht stimmte, weil sie sich die Haare blond gefärbt und wesentlich mehr Lidschatten aufgetragen hatte als gewöhnlich. Heute war sie den ganzen Tag unruhig und nervös ge wesen und machte den Eindruck, keine zwei Minuten stillsitzen zu
können. Da sie sich pausenlos vertippte, Akten falsch einsortierte und nur mit ihrer Maniküre beschäftigt war, war Kai regelrecht erleichtert, als sich die Tür hinter ihr schloss und sie endlich verschwunden war.
Während er eine Flasche Prosecco aus dem Kühlschrank nahm und zwei Gläser einschenkte, breitete Anne eine Landkarte auf dem Schreibtisch aus, auf der nicht nur fast jeder kleine Ort, sondern auch einzelne größere Anwesen eingezeichnet waren. Mit roten Stecknadeln markierte sie die Orte, wo die drei Jungen verschwunden waren, mit blauen, wo sie gewohnt hatten.
»Guck mal«, sagte sie zu Kai. »Filippo hat in La Scatola gewohnt und ist kurz vor Badia a Ruoti verschwunden. Das ist nicht mal einen Kilometer entfernt. Marco wohnte in Cennina, bis zum See waren es vielleicht zwei Kilometer. Felix verschwand unmittelbar vor La Pecora. Und jetzt sieh dir mal alle Orte an. La Pecora, Valle Coronata, La Scatola, Cennina, der See ..., das ist im Grunde ein ganz kleines Gebiet. Der Mörder hat immer im Umkreis von zwanzig Kilometern gemordet. Das heißt, er sitzt hier wie eine Spinne im Nest, fühlt sich vollkommen sicher und wird wahrscheinlich wieder ein Kind umbringen. Hier in dieser Gegend. In unmittelbarer Nachbarschaft.«
»Das müsste der Polizei doch eigentlich bewusst sein!«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich hab keine Ahnung, wie die hier arbeiten, aber ich bin ziemlich sicher, dass kein Polizist mehr einen Gedanken an Felix verschwendet. Und noch was, Kai. Felix verschwand 1994, Filippo 1997 und Marco 2000. Alle drei Jahre ein Junge. Mit schöner Regelmäßigkeit. Im letzten Jahr ist nichts passiert. Warum nicht? Ist der Mörder weggezogen, war er durch irgendwelche Umstände verhindert, oder steht der nächste Mord unmittelbar bevor?«
Kai zuckte die Achseln und hob sein Glas. »Trink erst mal einen Schluck, dann lässt sich's besser denken.«
Anne nippte nur an ihrem Prosecco und stellte das Glas sofort wieder auf den Beistelltisch. Sie wollte sich jetzt nicht aus dem Konzept bringen lassen. »Wir müssen einfach mal überlegen, ob und welche Verbindungen zwischen allen drei Orten bestehen. Welche Personen haben überall zu tun? Bei wem ist es am ehesten denkbar, dass er den Kindern dort auf seinem täglichen Weg begegnet ist? Vielleicht der Bäcker, der sowohl Montebenichi, Gennina und Badia a Ruoti täglich mit frischem Brot beliefert? Oder der Pfarrer, der sich um alle drei Gemeinden kümmert? Oder der Geometer, der für sämtliche Grundstücke dieser Gegend zuständig ist? Oder der
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