Der Kindersammler
Blumenwiese eine tödliche Falle ist, gefährlicher als ein leeres Treppenhaus mitten in der Nacht. Kennst du solche Gedanken?«
»Nein«, sagte Kai und sah Anne besorgt an. »Wirklich nicht. Du darfst jetzt nicht hysterisch werden, Anne. Niemand will dir etwas tun. Niemand bedroht dich. Du hast ein wunderschönes Haus gekauft, jetzt fang endlich an, es zu genießen!«
»Wie kann ich es genießen, wenn ich spüre, dass alles, was ich tue, alles, aber auch alles, was in diesem Haus passiert, dass jeder Windhauch, der mir in diesem Tal um die Nase weht, mit Felix zu tun hat?«
Kai sagte nichts mehr. Anne weinte leise vor sich hin, bis sie den Parkplatz erreichten, auf dem der kleine Fiat immer noch stand und mittlerweile von Unkraut und wilden Gräsern vollkommen zugewuchert war.
78
Sowohl Kai als auch Anne wussten ganz genau, dass Kai nicht ewig in Valle Coronata wohnen konnte, nur um Annes Ängste zu unterdrücken. Kai hatte herausgefunden, dass der unheimliche Mann mit dem Jeep Carlo gewesen war, ein Vorarbeiter Filottis, dem die Ländereien oberhalb des Tals gehörten. Das eingetragene Wegerecht gab es seit Menschengedenken, aber Filotti hatte nie Gebrauch davon gemacht. Außerdem hatte Enrico im Wald einen Weg gebaut, den Filotti benutzen konnte, um zu seinem Grundstück zu gelangen und nicht mehr über den Innenhof fahren zu müssen. Carlos Auftritt im Tal war also reine Schikane gewesen. Sollte das noch einmal vorkommen, müsse man mit Filotti reden, der ein sehr einsichtiger, freundlicher Mann war.
Anne war beruhigt und glaubte, sich das nächste Mal Carlo gegenüber besser verhalten zu können.
Als sie schließlich wieder allein war übte sie, sich so normal wie möglich zu benehmen, als hätte sie nie Angst gehabt, als wäre in Valle C oronata nie etwas Ungewöhnliches geschehen. Sie kaufte einen Fernseher, eine Waschmaschine und eine Gefriertruhe. Wenn nun ihre Jeans, Blusen und Pullover vor der obe ren Schlafzimmerterrasse auf der Leine im Wind flatterten, hatte sie wenigstens ein vages Gefühl von »zu Hause«. Den größten Teil ihrer täglich benötigten Lebensmittel fror sie jetzt in großen Mengen ein und war nun nicht mehr darauf angewiesen, das Tal zu verlassen, um ein Brot oder einen Pecorino zu kaufen. Aber am meisten liebte sie es, sich abends im Wohnzimmer in einen Sessel zu kuscheln und sich einen Film anzusehen. So holte sie sich ein Stückchen Heimat und Geborgenheit in ihr einsames Haus.
Es war genau eine Woche vergangen, seit Felix' Foto gestohlen worden war, und ein ungewöhnlich kühler Morgen, als sie ihr Schlafzimmerfenster öffnete und Allora wiedersah. Sie stand oberhalb des Pools in einem knöchellangen beigefarbenen Kleid, das in der Morgensonne orangefarben leuchtete. Ihre weißen Haare lagen ungewöhnlich eng am Kopf, den rechten Unterarm hielt sie vor den Augen, als würde sie der Sonnenaufgang blenden. Sie war eine schöne, unwirkliche, schmale Gestalt, fast wie eine Madonnenerscheinung.
Vielleicht war sie im Wasser, dachte Anne unwillkürlich, als sie Alloras Haare sah, vielleicht war sie wahrhaftig um diese Zeit schon in diese grüne, ekelhafte Brühe gestiegen.
Anne öffnete das Fenster. Allora registrierte das Geräusch des Fensterriegels sofort und sah in Annes Richtung. »Allora«, sagte sie statt einer Begrüßung und lächelte. Dabei sah Anne zum ersten Mal ihre fleckigen Zähne und wunderte sich, dass dieser unangenehme Anblick sie auf eine nicht zu erklärende Art rührte.
Allora stand wie eine Engelsstatue im Wald und bewegte sich nicht, auch nicht, als Anne den Tisch unter dem Nussbaum für zwei Personen deckte.
Als der Kaffee fertig war, rief sie: »Komm, Allora, komm und setz dich zu mir!«, und winkte in Alloras Richtung.
In diesem Moment löste sich Alloras Erstarrung. Langsam ging sie hinunter zum Pool. Jetzt erst sah Anne, was Allora in der Hand hielt. Es waren rote Buschrosen, die sie bisher hinter ihrem Rücken verborgen hatte, längere und kürzere, die allerdings zusammen keinen Strauß, sondern eher ein Rosendickicht ergaben.
Am Pool machte Allora halt und blieb einen Moment unbeweglich stehen. Dann pflückte sie die Blüten von den Rosen und warf sie einzeln ins Wasser.
Bewegt von dem hereinströmenden Quellwasser, tanzten die Blüten auf der dunkelgrünen Wasseroberfläche und stauten sich anschließend vor dem schmalen Abfluss.
»Allora«, murmelte Allora und ging langsam über den Weg hinter der Mühle zum Haupthaus. Vorsichtig und sehr
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