Der Kindersammler
seinen Spaten und sah denen, die da kamen, wenig erfreut entgegen.
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Es lässt sich im Nachhinein schwer sagen, ob vielleicht nicht doch alles noch ganz anders gekommen wäre und einen glücklicheren Ausgang genommen hätte, wenn Mareike an diesem Morgen auf dem Weg ins Bad nicht gestolpert wäre. Vom winzigen Schlafzimmer im ersten Stock führte eine schmale, gewundene Treppe hinunter zum Bad deren Stufen alle unterschiedlich hoch und tief waren.
Mareike trug Badesandalen, war noch schlaftrunken und unaufmerksam, stolperte auf der vorletzten Stufe, fiel unglücklich und verletzte sich den linken Knöchel.
Bereits beim Frühstück schwoll der Knöchel zu einer dicken Wurst an, die von Viertelstunde zu Viertelstunde immer ballförmiger wurde.
Eleonore bot sich sofort an, Mareike nach Ambra zur Dottoressa zu fahren, die entscheiden würde, was mit dem Fuß weiter geschehen solle, und Bettina beschloss, mit den Kindern eine größere Wanderung zu unternehmen. Da sie an diesem Tag eigentlich vorgehabt hatten, alle gemeinsam nach Siena zu fahren, um sich den Dom, die Piazza del Campo und eventuell noch die eine oder andere Kirche anzusehen, im schlimmsten Fall auch noch ein Museum zu besuchen, waren Jan und Edda von der Planungsänderung direkt angenehm überrascht.
Geien halb zehn hüpfte Mareike, auf Eleonore gestützt, zum Auto, um zur Ärztin zu fahren, und ungefähr zur gleichen Zeit startete auch Bettina mit Jan und Edda. Alle drei hatten in ihren Rucksäcken Wasserflaschen und genügend
Proviant, denn die Wanderung, die sie vorhatten, sollte mehrere Stunden in Anspruch nehmen.
Sie hatten eine detailgenaue Wanderkarte dabei. Bettina plante, über Montebenichi Richtung San Vincenti zu laufen, dann quer durch das Tal zum Monte di Rota aufzusteigen und über Casa Cinghale zurück nach La Pecora zu kommen.
Eleonore und Mareike saßen zwei Stunden im Wartezimmer der Dottoressa. Als sie endlich an der Reihe waren, warf die Dottoressa einen kurzen Blick auf den Fuß und schickte die beiden direkt weiter zur Ersten Hilfe, zum Pronto Soccorso, ins Krankenhaus nach Montevarchi. Sie meinte, der Fuß müsse dringend geröntgt und dann dementsprechend behandelt werden.
Nach drei Stunden verließ Mareike auf Krücken humpelnd das Krankenhaus. Auf der Röntgenaufnahme hatte man keinen Bruch feststellen können, man hatte das Bein fest bandagiert und sie mit dem guten Ratschlag, das Bein hochzulegen und möglichst zu schonen, entlassen.
»Na, wenigstens ist nichts gebrochen«, meinte Eleonore auf der Rückfahrt.
»Aber es ist doch komisch, dass ich das Gefühl habe, keinen Schritt laufen zu können«, überlegte Mareike. »Und das ist das Allerletzte, was ich in meinem Beruf gebrauchen kann.«
Bis San Vincenti war die Wanderung ohne alle Zwischenfälle verlaufen, auch Jan und Edda waren ungewöhnlich willig und maulten weniger als gewöhnlich. Edda hatte anscheinend Quasselwasser getrunken und erzählte ohne Pause von den Vorzügen ihres Freundes Mike, der schon in der Zwölften war und Informatiker werden wollte. Mike hatte eine schwere Akne, war einsfünfundneunzig groß und hatte noch keinen Weg gefunden, seine Gliedmaßen koordiniert zu bewegen. Wenn man ihn ansprach, wurde er flammend rot und schämte sich dafür, dass er auf der Welt war. Aber dies alles störte Edda in ihrem Verliebtsein nicht im Gerings ten, sie schaffte es, zweieinhalb Stunden von einem jungen zu schwärmen, der den Mund nicht aufkriegte. Weder zu einem vernünftigen Gespräch noch zum Küssen.
Bettina fand es rührend, was Edda ihr da alles erzählte, sie wusste den Vertrauensbeweis zu schätzen. Als sie selbst in Eddas Alter war, war sie unsterblich in ihre Chemielehrerin verliebt gewesen und hatte vor lauter Verzweiflung angefangen zu lispeln und zu stottern. Insofern war Edda wesentlich besser dran. Sie legten drei Pausen ein, weil Ed das Handy klingelte und »M ike « (was sie »Maiki« aussprach) anrief. Dann rannte Edda ins Gebüsch und flüsterte zehn Minuten, um schließlich mit hochrotem Kopf wieder zu er scheinen. Was an Selbstgesprächen derart aufregend sein sollte, konnte sich Bettina gar nicht vorstellen.
Hinter Montebenichi unterhalb einer Pferdekoppel fand Jan eine kleine Schildkröte. Er streichelte ihren Panzer und kraulte sie unter dem Kopf, den die Schildkröte ihm willig entgegenstreckte, weil sie es genoss. Jan war selig, und als Bettina ihm erlaubte, die Schildkröte zu behalten, konnte er sein Glück gar nicht
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