Der Kindersammler
fassen. In seine Hosentaschen stopfte er so viel Grünzeug für ihr Abendbrot, wie hineinpasste, und trug sie vorsichtig wie ein rohes Ei in seinen Händen. Mit Bettina diskutierte er, wie er die Schildkröte nennen sollte, wenn Edda mal Luft holte und eine kurze Miki-Sendepause einlegte.
So durchquerten sie San Vincenti. Bettina war bereits leicht erschöpft, aber weder Jan noch Edda spürten den Gewaltmarsch, zu sehr waren sie mit ihren Lieblingen beschäftigt.
Unmittelbar am Ortsausgang schlug Bettina einen Weg ein, von dem sie annahm, er könnte in die richtige Richtung führen. In der Karte war zwar ein anderer Weg eingezeichnet, der von der Ortsmitte ausgehen sollte, aber den hatte sie nirgends entdecken können.
Nach einer guten halben Stunde kamen sie plötzlich zu einem Haus, das versteckt hinter einem kleinen Hügel lag. Bettina hatte an diesem Ort überhaupt kein Haus erwartet, da es vom Weg aus auch bisher nicht zu sehen gewesen war. Sie hatte auf einmal das beklemmende Gefühl, sich auf einem fremden Grundstück zu befinden. Jan und Edda schnatterten ohne Punkt und Komma, während sich Bettina umsah, ob irgendjemand in der Nähe war, bei dem sie sich für die Störung entschuldigen konnte.
»Seid mal nicht so laut«, sagte sie, als sie direkt am Haus vorbeigingen.
Enrico saß mit übereinander geschlagenen Beinen unter dem Feigenbaum und lächelte freundlich.
»Hallo!«, sagte er. »Was für ein netter Besuch! Normalerweise verirrt sich kaum jemand hierher. Ihr seht aus, als ob ihr Durst habt!«
Bettina war über den herzlichen Empfang vollkommen überrascht, auch dass sie gleich deutsch angesprochen wurde, wunderte sie.
»Woher wissen Sie, dass wir Deutsche sind?«, fragte sie als Erstes.
»Das sieht man«, meinte Enrico lächelnd. »Aber nicht nur das, ich habe auch ein paar Brocken von Ihrer Unterhaltung aufgeschnappt. Aber bitte setzen Sie sich doch einen Moment.«
»Danke.« Bettina nahm die Einladung gerne an und setzte sich. Jan und Edda ebenfalls. Enrico holte Wasser, Fruchtsäfte und italienisches Salzgebäck, das er immer im Haus hatte, falls das Brot zu Ende ging.
Was nun folgte, war eine angenehme, lockere Konversation, an der sich sogar Jan und Edda streckenweise beteiligten. Enrico war allen dreien auf Anhieb sympathisch. Bettina erzählte, dass sie in einer schönen Ferienwohnung in La Pecora wohnten, und Enrico meinte, was für ein netter Zufall, La Pecora kenne er gut, das sei schließlich eins der Häuser, die er gebaut beziehungsweise umgebaut habe.
Bettina erfuhr, dass er ein Architekt und Aussteiger aus Deutschland war, leider im Moment Strohwitwer, da seine Frau für einige
Tage zu ihren Eltern gefahren war. Er sprach über sein einfaches Leben in der Einsamkeit und von seinem Wunsch, sein früheres Business-Leben weit hinter sich zu lassen und mit nur wenig Besitz und möglichst ohne Errungenschaften der Zivilisation, wie Radio, Fernsehen, Computer, ja bis hin zum Verzicht auf Strom, auszukommen.
Jan und Edda sahen sich an, als wären sie einem Außerirdischen begegnet. Du lieber Himmel, ein Leben ohne Fernseher und Computer! Was für ein Irrsinn! So ein Leben erschien ihnen völlig unmöglich, aber Bettina war von diesem Mann fasziniert.
Jan ließ »Harry«, so hatte er seine Schildkröte getauft, im hohen Gras hinter dem Haus laufen, aber er ließ sie keine Sekunde aus den Augen, da sie schnell rennen konnte und er Angst hatte, sie zu verlieren. Enrico zeigte ihm, wie Löwenzahn aussah, den Schildkröten besonders gerne fraßen, und schnitt einen Apfel in dünne Scheiben, die Harry mit Heißhunger verschlang.
»Komm mich doch in den nächsten Tagen noch mal besuchen«, sagte Enrico zu ran. »Dann baue ich dir ein Gehege für deine Schildkröte, damit sie in La Pecora frei herumlaufen kann und du nicht unentwegt auf sie aufpassen musst. Es ist ja schrecklich, wenn du ständig Angst hast, dass sie wegläuft!«
»Echt?«, fragte Jan. Er konnte es kaum glauben, dass dieser wildfremde Mann so etwas für ihn tun wollte.
»Echt«, sagte Enrico und fuhr ihm freundschaftlich mit der Hand durchs Haar.
Als Bettina irgendwann auf die Uhr sah, erschrak sie. Sie hatten drei Stunden geredet und völlig die Zeit vergessen. Für den Rückweg brauchten sie mindestens noch einmal so lange. Bettina war völlig erschöpft. Sie hatte das Gefühl, jetzt nach dieser langen Ruhepause keinen Schritt mehr laufen zu können.
Enrico bot sich an, sie zurück nach La Pecora zu fahren.
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