Der Kindersammler
du, mir zu erzählen? Willst du wissen, was ich darüber denke?«
Anne nickte.
»Dass du verrückt geworden bist, meine Liebe. Dass du nicht mehr ganz richtig tickst. Es soll durchaus vorkommen, dass Menschen sonderbar werden, wenn sie sich in der Einsamkeit verkriechen, in der Nacht nur noch auf den schwarzen Wald starren und das Käuzchen schreien hören. Plötzlich tanzen die bösen Hexen, die Teufel und die Gespenster um den Pool. Ich finde es wunder schön hier, aber komm mir bitte nicht mit diesem Blödsinn.«
»Du hast nichts, aber auch gar nichts verstanden!« Anne hatte einen Kloß im Hals und konnte kaum sprechen.
»Ich habe sehr wohl alles verstanden. Aber ich bin Realist Anne, und du bist hysterisch. Das ist alles. Wenn du im Wald spazieren gehst und einen Blätterhaufen siehst, fängst du an zu buddeln, weil du glaubst, darunter liegt eine Leiche. Du siehst nur noch Leichen. Überall. Und das ist nicht ganz gesund, meine Liebe.«
Anne hatte sich über die Lockerheit, die Ruhe und Harmonie gefreut, die zwischen ihr und Harald seit seiner Ankunft geherrscht hatten, und jetzt war alles vorbei. Er hatte alles zerstört. Sie wollte nur noch allein sein, fürchtete sich davor, mit ihm in einem Bett zu schlafen. Er kam aus einer anderen Welt, er würde ihre Welt niemals verstehen. Es war vorbei. Da gab es keine Verbindung mehr, das ließ sich nicht mehr kitten.
»Du weißt ja, wo Bad und Schlafzimmer sind«, sagte sie und ging die Treppe hinauf. Sie wollte sich nicht mehr abschminken und nicht mehr die Zähne putzen, sondern einfach nur schlafen und nicht mehr darüber nachdenken, warum ihr Mann nicht begreifen konnte, dass sie kurz davor war, dem Geheimnis um Felix' Verschwinden auf die Spur zu kommen und ihr gemeinsames Problem zu lösen. Für ihn war sie einfach nur eine Frau, die den Verstand verloren hatte.
Als Harald eine halbe Stunde später ins Schlafzimmer kam, sah er, dass ihr Kopfkissen nass war und sie sich in den Schlaf geweint hatte.
Leise und vorsichtig kroch er unter die Bettdecke und löschte das Licht. Dann küsste er sie aufs Haar und flüsterte: »Morgen früh sieht alles anders aus, morgen früh denken wir noch mal über alles nach, mach dir keine Sorgen.«
Aber das hörte sie nicht mehr.
Als Anne am nächsten Morgen erwachte, war die Bettseite neben ihr leer. Aber sie war benutzt und die Decke war in der Art zurückgeschlagen, wie Harald es immer tat. Er rollte sie zusammen und ließ sie als Bettwurst am Fußende liegen.
Anne stand auf und sah aus dem Fenster. Harald stand in seinen Boxershorts am Rand des Pools und starrte nachdenklich ins Wasser. Sie zog sich schnell einen Bademantel über und rannte nach draußen. Harald lächelte, als sie kam.
»Das ist ja eine widerliche Brühe«, sagte er. »Da kann man nur reingehen, wenn man scharf darauf ist, dass einem die Blutegel den letzten Blutstropfen aussaugen. Wo hat dieser Enrico gesagt ist der Abfluss?«
»Irgendwo da im vorderen Drittel. Genau konnte er mir das auch nicht erklären. Er sagte, man muss tauchen, den Deckel im Schlamm ertasten und ihn dann mit ganz viel Kraft, am besten mit irgendeinem Werkzeug, aufdrehen. Wahrscheinlich hat er sich so festgefressen, dass er sich kaum noch bewegen lässt.«
»Einen Knall hat der liebe Enrico«, sagte Harald geringschätzig. »Wie kann man nur so einen unpraktischen Blödsinn bauen. Das ist ja eine Zumutung. Koch mal einen starken Kaffee, Anne, ich finde schon einen Weg. Jedenfalls mach ich dir deinen Pool sauber.«
»Willst du da rein und tauchen?« Anne konnte es gar nicht glauben und sah ihren Mann entsetzt an, der mit seinen dünnen blassen Beinen in seinen Shorts irgendwie verletzlich aussah.
»Den Teufel werd ich tun. Keine zehn Pferde kriegen mich in dieses Modderloch. Wo hast du denn ein bisschen Werkzeug?«
Anne zeigte ihm den kleinen Verschlag neben der Badezimmertür und die Stellen, wo Steine, Bauschutt, Holzbalken, Eisengitter und Ähnliches zu Haufen aufgeschichtet herumlagen. Enrico hatte nach dem Bauen entweder keine Lust mehr gehabt alles wegzuräumen, oder er hatte geglaubt, das eine oder andere noch mal gebrauchen zu können.
Während Anne das Frühstück machte, kramte Harald in den Bauresten herum.
Als sie das Tablett hinaustrug, sah sie, dass er eine Eisenstange gefunden hatte und damit auf dem Boden des Pools herumstocherte. Sie rief ihn zum Frühstück, aber er winkte ab und stocherte konzentriert weiter. Auf einmal ging ein Ruck durch seinen
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