Der Kindersammler
durchschlafen k ö nnte, w ü rde er morgen sicher wieder fit sein und sich besser f ü hlen.
Wie jeden Abend erschreckte ihn die Stille, als er die Wohnungst ü r aufschloss, denn Fritzi kam nicht mehr um die Ecke gesaust und brachte die klein e afghanische Br ü cke ins Rutschen, um sich auf ihn zu st ü rzen, an ihm hochzuspringen und vor Freude die Hand zu lecken. Fritzi brachte ihm nicht mehr die Leine und bettelte um einen Spaziergang, Fritzi schnarchte auch nicht mehr vor dem Fernseher, sodass er den Ton lauter stellen musste. Fritzi war zusammen mit Heidi aus seinem Leben verschwunden, und oft ü berlegte er, ob wenigstens der Hund ihn vielleicht manchmal vermisste.
Karsten schnappte erschrocken nach Luft, als er ins hei ß e Badewasser stieg, und lie ß sofort kaltes nachlaufen. Dann sank er in das immer noch etwas zu warme Wasser und schloss die Augen. Was konnte ein zarter, kindlicher, elfj ä hriger Junge verbrochen haben, dass ihn sein Vater aus dem Weg r ä umen musste? Karstens Schl ä fen pulsierten, und er hatte das Gef ü hl, sein Kopf m ü sse um einige Zentimeter Umfang angeschwollen sein, dennoch dachte er angestrengt nach. Aber die Antwort auf diese Frage ü berstieg seine Vor stellungskraft.
» Er war so ein liebevoller, freundlicher Junge. Er hatte so ein gro ß es Herz « , hatte Benjamins Vater gesagt. Bereits auf der Polizeischule vor drei ß ig Jahren hatte Karsten gelernt, genau auf die Formulierung zu achten. Peter Wagner redete bereits im Imperfekt. » Er war « , » er hatte « . Also war Benny in seinen Gedanken bereits tot. Und wer konnte das besser wissen als er selbst.
Karstens K ö rper wurde immer schwerer und schlaffer, die Arme hingen ü ber den Wannenrand, sein Kopf kippte zur Seite.
Erst das schrille Klingeln des Telefons holte ihn zur ü ck in die Realit ä t und bewahrte ihn davor, in der Wanne einzuschlafen. Fluchend stieg Karsten aus dem Wasser und tappte nass und nackt in den Flur. Er wollte sich nicht abtrocknen, da er vorhatte, den Anrufer abzuwimmeln und sich sofort wieder in die Wanne zu legen.
» Wir haben eine Kinderleiche gefunden « , sagte sein Kollege Watzki ohne Umschweife. » In einer Laube der Kolonie Sorgenfrei, Parzelle 19. Komm so schnell du kannst, es ist wichtig dass du das siehst. « Ohne Karstens Antwort abzuwarten, legte Watzki auf.
» Verdammte Schei ß e « , fluchte Karsten, rannte vorsichtig zur ü ck ins Bad, um nicht auszurutschen, trocknete sich notd ü rftig ab und zog sich an. Seine Sachen klebten am K ö rper. Er steckte sich die Schokoladenriegel in die Tasche und st ü lpte sich eine graue Strickm ü tze ü ber die nassen Haare, die er in der untersten Schublade des Kleiderschrankes fand, wo sie vor sich hin gemottet hatte, seit er sie vor Jahren zum letzten Mal getragen hatte.
Dann hastete er die Treppe hinunter und lief zu seinem noch relativ neuen, silbergrauen Golf, in der Hoffnung, dass ihm nicht gerade heute mal wieder einer seiner liebreizenden Nachbarn die Reifen durchstochen hatte.
13
Benjamin sa ß aufrecht am Tisch. Sein kleiner K ö rper war derart zwischen Stuhl und Tischplatte geklemmt, dass er nicht umfallen konnte, in seinem Nacken steckte ein Kissen, der Kopf lehnte an der Wand, die Augen waren weit aufgerissen, als k ö nne er immer noch nicht begreifen, was mit ihm geschah. Die Unterarme lagen auf der Tischplatte, die kleinen H ä nde zu F ä usten geballt und mit Klebeband fixiert, damit sie nicht vom Tisch rutschen konnten. Benny war vollst ä ndig bekleidet, seine Haare wirkten wie sorgf ä ltig in die Stirn gek ä mmt.
Der einzige Sch ö nheitsfehler an dem friedlichen Bild war die Tatsache, dass Benny seit knapp achtzehn Stunden tot war.
Der Tisch war f ü r zwei Personen gedeckt, aber das Geschirr war unbenutzt.
Der Polizeifotograf fotografierte das Innere der Laube und die Leiche aus jedem Winkel und jeder erdenklichen Perspektive, in der Totale, in der Halbtotale und dann jedes Detail aus n ä chster N ä he. Er hatte das Gef ü hl, noch keinen Tatort in seinem Leben — und das waren viele gewesen — so ausf ü hrlich und genau fotografisch dokumentiert zu haben. Ab und zu wischte er sich den Schwei ß von der Stirn, obwohl es in der Laube lausig kalt war, und murmelte Fl ü che, die keiner verstand und die auch keiner verstehen sollte, die ihn aber davon abhielten, sich in eine Ecke zu setzen und in Tr ä nen auszubrechen.
Die Kollegen der Spurensicherung warteten noch, bis Hauptkommissar
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