Der Kindersammler
Schwiers den Tatort gesehen und der Fotograf seine Arbeit getan hatte. Vorher konnten sie Geschirr, Bettdecke, Kleidung des Jungen und viele andere Kleinigkeiten nicht sicherstellen, um sie mit ins Labor zu nehmen oder an Ort und Stelle spurentechnisch zu behandeln. Auf den Fotografen konnten sie sich verlassen. Er war ein alter Hase, stand wenige Jahre vor der Pensionierung, und es war ihm in Fleisch und Blut ü bergegangen, nichts zu ber ü hren und nichts zu ver ä ndern. Er war auch einer der wenigen, der bei seiner Arbeit die gleiche Schutzkleidung trug wie die Beamten der Spurensicherung. » Aus Respekt vor dem Opfer « , erkl ä rte er gelegentlich, » ist diese kleine Unbequemlichkeit ja wohl das Mindeste. «
Karsten Schwiers stand minutenlang vor dem klein en Jungen und wartete darauf, dass sein geschultes Polizistenhirn anfangen w ü rde zu arbeiten, aber da war nur eine unertr ä gliche Leere. Ich habe einen Schock, dachte er, ich alter Zausel habe einen gottverdammten Schock und verstehe die Welt nicht mehr, weil ich diesen M ö rder nicht begreife.
Watzki stand am Fenster, beobachtete seinen Chef und lie ß ihm Zeit. » Ich hab die Taucher nach Hause geschickt « , sagte er leise.
» Nat ü rlich! « , polterte Karsten. » Ist ja wohl logisch! Oder brauchst du dazu auch noch meinen Segen? «
Watzki nahm ihm den Ton nicht ü bel, dazu kannte er Karsten schon zu lange. Immer wenn seinem Chef etwas nahe ging, wurde er ungehalten und ungerecht. Auch bei Verh ö ren schlug er gern ü ber die Str ä nge, aber dann holte ihn Watzki stets zur ü ck auf den Teppich. Er verstand sich als Ausputzer, als Kontrolleur eines zornigen alten Mannes, der den Traum gehabt hatte, mithilfe seines Berufes die Welt zu verbessern, und jetzt, mit Ende f ü nfzig, einsehen musste, dass er nichts erreicht hatte. Die Welt da drau ß en war immer brutaler und vor allem hinterh ä ltiger geworden.
» Wer hat ihn gefunden? « , br ü llte Schwiers. » Sein Vater bei einem Abendspaziergang? «
» Ein Rentner « , erwiderte Watzki in betont ruhigem Tonfall. » Herbert Klatt. Er hat die Laube in Parzelle 23. Er geht oft durch die Kolonie, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist. Ihm ist aufgefallen, dass dieser h ä ssliche Engel neben der Laterne fehlt. Er liegt drau ß en. Damit wurde offensichtlich die Scheibe eingeschlagen. Und dann hat sich Klan die Laube mal genauer angesehen und das kaputte Fenster entdeckt. Er dachte an einen ganz gew ö hnlichen Einbruch von Pennern, die mal ne Nacht im Trocknen ü bernachten wollen, und hat die Polizei alarmiert. Und dann haben die Kollegen Benjamin gefunden. «
Karsten nickte. » Wem geh ö rt die Laube? «
» Einem Ehepaar Bliese. Ein Elektriker und seine Frau. Beide Rentner. Sie wohnen in Steglitz. Wir haben versucht sie anzurufen, aber sie waren nicht zu Hause. «
Karsten nickte den Kollegen von der Spurensicherung zu. » Ihr k ö nnt anfangen. Mir reiches. «
Er ging nach drau ß en. Watzki folgte ihm, hielt aber angemessenen Abstand, um ihn nicht zu reizen.
In diesem Moment kam der Pathologe durch den Garten. Er war versp ä tet. » Wenn ich vor einer halben Stunde bereits gewusst h ä tte, wann der Tod eingetreten und wann er ermordet worden ist, h ä tte ich den T ä ter l ä ngst festnehmen k ö nnen « , meinte Karsten vorwurfsvoll.
» Geben Sie mir zwei Minuten, und ich sage Ihnen den Namen, den er w ä hrend seines letzten Atemzugs gefl ü stert hat « , konterte der Pathologe und verschwand im Haus.
» Er ist ein unzuverl ä ssiges Arschloch « , sagte Karsten zu Watzki, » aber er gef ä llt mir. Fahren wir zu den Eltern. «
» Bist du so sicher? Ich meine, die Identifizierung ... «
» Ich bin sicher « , schnauzte Karsten. » Ich hab Bilder gesehen. Dieser Junge ist nicht wie alle anderen. Sein Gesicht werde ich nie mehr vergessen. Dieses Kind ist Benjamin Wagner. «
14
Der Radiowecker zeigte sechs Uhr zwanzig, als das Telefon klingelte. Mareike Koswig st ö hnte auf und war ein paar Sekunden lang unf ä hig, zu reagieren oder sich zu bewegen. Ihre Freundin Bettina schlang den Arm um sie und zog sie an sich. Bettina konnte sogar im Halbschlaf noch ungeahnte Kr ä fte entwickeln, was Mareike erst nach einer Dusche und zwei Tassen Kaffee m ö glich war.
» Geh nicht ran « , fl ü sterte Bettina. » Lass doch dieses bl ö de Telefon. Du bist eben nicht zu Hause. Basta. «
» Ich muss « , murmelte Mareike und versuchte, sich aus der krakenhaften Umklammerung zu
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