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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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meisten G ä ste dazu veranlasste, ebenfalls aufzubrechen, und er dadurch fast immer p ü nktlich um vierundzwanzig Uhr Feierabend machen konnte.
    Peter war nicht betrunken, aber er war ruhiger geworden. » Geleite mich, mein Freund « , sagte Werner und legte seinen Arm um Peters Schulter, » mir ist so schrecklich kalt. «
    Peter wurde jetzt erst bewusst, dass er den ganzen Abend in der Kneipe zugebracht hatte, den Abend, den er h ä tte nutzen m ü ssen, um nach seinem Sohn zu suchen. Erst jetzt in diesem Moment ü berkam ihn das schlechte Gewissen mit Macht und verursachte ihm eine entsetzliche Ü belkeit. Er hatte das Gef ü hl, in den vergangenen drei Stunden bewusstlos gewesen zu sein.
    Vor der Kneipe fasste ihn Werner an den Hintern. » Wo gehst du hin, mein Freund? «
    » Auf den Friedhof « , zischte Peter, riss sich los und lief davon. Ohne anzuhalten, ohne einmal Atem zu sch ö pfen, bis zum Kanal.
    An der letzten Stra ß enecke, direkt vor dem Wasser, stand eine Telefonzelle. Er suchte gen ü gend M ü nzen zusammen und rief Marianne an.
    » Wo bist du? « , fragte sie. » Was machst du? «
    » Ich suche ihn « , br ü llte er in den Apparat, um sein Gewissen zu ü bert ö nen.
    » Bitte, komm nach Hause « , fl ü sterte sie tonlos. » Ich halte das alles nicht mehr aus! «
    » Bald « , sagte Peter und legte auf.
    Eine kleine Taschenlampe, die locker in seine Jackentasche passte, aber dennoch au ß ergew ö hnlich leistungsstark war, hatte er dabei. Am Kanal ging er langsam den Uferstreifen ab, denn er wusste, wie gern Benjamin hier am Wasser sa ß . Heute Nachmittag war er bereits den gesamten Weg, der am Kanal entlangf ü hrt, abgegangen und hatte nichts gefunden, umso absurder war es, nachts weiterzusuchen, aber irgendein unerkl ä rliches Gef ü hl lie ß sein Herz h ö her schlagen. Meter f ü r Meter leuchtete er das Ufer ab und wurde immer nerv ö ser. Als w ü rde hinter dem n ä chsten Busch Benjamin auf einem Stein sitzen und sagen: » Hallo Papa, mir is kalt. Was gibt's denn zum Abendbrot? «
    Eine Ente schlief im Unterholz und flog schnatternd davon, als Peter beinah auf sie trat. Er zuckte zusammen, schaltete die Lampe aus, stand einen Moment lauschend in der Dunkelheit und suchte dann weiter.
    Jetzt in der Nacht war es noch k ä lter geworden. Peter zog den Rei ß verschluss seiner gesteppten Jacke h ö her, sodass sein Hals bis zum Kinn in der Jacke verschwand. Stellenweise lag eine d ü nne Schneeschicht auf dem Gras, auf der nackten Erde unter B ü schen und B ä umen war der Schnee getaut. Peter stolperte, da er nicht darauf achtete, wo er hintrat, und mit der Taschenlampe immer ein paar Meter vorausleuchtete.
    Und dann sah er sie. Direkt am Wasser, hinter Str ä uchern, f ü r jeden, der den Weg entlangging, v ö llig verborgen. Die Tasche, deren Leuchtstreifen auf der Verschlussklappe grell aufblinkten, als der Lichtkegel der Taschenlampe sie traf. Bennys rote Schultasche, an den Seiten lila und blau abgesetzt, mit den Schnappverschl ü ssen, an denen er stundenlang herumspielen konnte, wenn er sich langweilte. Die Halterung des Griffes an der Oberseite hatte er mit einem Kugelschreiber ausgemalt, kurz nachdem er sie bekommen hatte. Marianne war dar ü ber sehr ä rgerlich gewesen, und jetzt trieb ihm die kindliche Schmiererei die Tr ä nen in die Augen. In unmittelbarer Umgebung der Tasche lagen im schon fast verfaulten Laub seine Federtasche, einzelne Hefte, ein paar Schulb ü cher, einige lose Stifte und Bennys Gameboy.
    Peter zitterte vor Aufregung. Hier war seine Tasche, und hier musste auch Benny sein. Ganz in der N ä he. Er lie ß die Tasche und Bennys ü brige Schulsachen liegen und leuchtete die weitere Umgebung ab, st ä ndig darauf gefasst, den K ö rper seines Kindes hinter einem Strauch oder unter einem Busch liegen zu sehen. Er kroch auf allen vieren durchs Gestr ü pp, hielt auf die Erde h ä ngende Zweige hoch und w ü hlte in alten vermoderten Bl ä tterhaufen, aber da war kein Benny. Nirgends.
    Als er einen Moment innehielt, h ö rte er die Wellen des Kanals leise ans Ufer schlagen. Und weit weg, in der Ferne, bellte ein Hund. Das Wasser, dachte er. Jemand hat ihn in den Kanal geworfen. Benny ist im Kanal. Im schwarzen Wasser des Neuk ö llner Schifffahrtskanals, das nach totem Fisch und Diesel roch.
    Peter sackte zusammen und blieb eine Weile bewegungslos auf der nassen Erde sitzen. Was mache ich blo ß , dachte er, um diese Jahreszeit ist es doch viel zu kalt im

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