Der Kindersammler
sprechen schon von einem Serient ä ter? « Mareike war ü berrascht.
» Ich ziehe es zumindest in Erw ä gung « , meinte Schwiers. » Aber bitte, erz ä hlen Sie doch weiter! «
» Der T ä ter fuhr dann mit Daniel nach Seershausen. Das sind etwas ü ber vierzehn Kilometer. Dort ist ein Steinbruch, in dem immer ein paar Bauwagen f ü r die Arbeiter stehen. Am Ostersonntag war da nat ü rlich kein Mensch. Und am Ostermontag auch nicht. « Mareike zog ein paar Fotos aus ihrer Tasche und legte sie vor Karsten auf den Tisch. » Das ist der Steinbruch, und der letzte hier, der etwas versetzt steht, das ist der Bauwagen, in dem wir Daniel gefunden haben. Die Leiche sa ß an einem Tisch, auf dem Tisch standen zwei Kaffeebecher der Arbeiter, zwei Fr ü hst ü cksteller, und auf Daniels Teller lag ein Schokoladen-Osterei in buntem Stanniolpapier. Er hatte Daniel keine Schokolade gegeben, als er noch lebte, es war eine reine Inszenierung. Er wollte uns ein harmonisches Bild hinterlassen. Oder er wollte uns nur Kopfzerbrechen machen, weiter nichts. «
» Dasselbe Bild wie bei Benjamin. « Karsten legte f ü nf Mark auf den Tisch. » Kommen Sie, wir fahren hin. «
Alles, was Karsten erkl ä rte, konnte sich Mareike detailliert vorstellen. Sie hatte den toten Daniel Doll im Bauwagen sitzen sehen, und jetzt sah sie hier in ihrer Vorstellung in der Neuk ö llner Laube Benjamin vor sich am Tisch, mit starrem, gebrochenen Blick und weit aufgerissenen Augen, die sagen wollten: » Warum seid ihr nicht fr ü her gekommen? Der b ö se Mann hat sich so viel Zeit gelassen, mich zu t ö ten, und ihr habt mich trotzdem nicht gefunden. «
Sie hatte ein Bild von Benjamin in der Hand, ein lachendes, gl ü ckliches Kind mit weichen blonden Locken und einem kleinen Wirbel ü ber der rechten Stirnseite. Die Ä hnlichkeit mit Daniel Doll war frappierend. Daniel war zwar ein Jahr j ü nger gewesen, als er ermordet wurde, aber er hatte den gleichen zarten K ö rperbau, die gleiche helle Haut und ebenso blonde Haare gehabt. Allerdings glatt und stumpf geschnitten und etwas k ü rzer als die von Daniel.
Mareike registrierte in der Laube alles ganz genau, als fotografiere sie in ihrem Hirn die Einzelheiten. Die verblichene alte Tapete mit hellblauen Veilchen, das H ä keldeckchen auf dem K ü chentresen, das mit einem altmodischen Ornamentenmuster bestickte Kissen im Sessel. Die schon etliche Male ü berstrichene Holzt ü r und das Fenster direkt ü ber der Pritsche, auf der Benjamin gelitten hatte. Sie konnte sich kein anderes Gef ä ngnis vorstellen, in dem das Fenster zur Freiheit so nah war. Der billige Kaufhausperser ü ber der abgenutzten gr ü n-br ä unlichen Auslegware und das kitschige Bild mit der Tiroler Berg- und Seenlandschaft in einem primitiven beigefarbenen Rahmen, das Benjamin stundenlang angestarrt haben musste.
» Die Gegenst ä nde, die die Spurensicherung untersucht hat, zeige ich Ihnen auf dem Pr ä sidium « , sagte Karsten. Nachdem er Mareike genausten erkl ä rt hatte, wo und wie Benjamins Leiche gesessen und wo er zuvor gelegen hatte, war es bedr ü ckend still in der Laube.
Mareike dachte wieder an Bettina, deren gr öß ter Wunsch es war, ein Kind zu adoptieren, und die auch schon — gegen Mareikes Willen — mit einigen Vermittlungsstellen Kontakt aufgenommen hatte. Bettina konnte Mareikes Zur ü ckhaltung nicht verstehen, aber Bettina war auch noch nie an einem Tatort gewesen und hatte noch nie in das Gesicht eines toten Kindes gesehen, das bis zur letzten Sekunde gehofft und geglaubt hatte, dass wie durch ein Wunder Mama oder Papa auftauchen und es aus der Gewalt des M ö rders befreien w ü rden. Wenn unserem Kind so etwas passieren w ü rde, dachte Mareike, nein, das k ö nnte ich nicht ertragen. Bettina sah nur die positiven Aspekte einer Adoption, Mareike nur die negativen. Dass sie in dieser Frage je zusammenkommen w ü rden, konnte sie sich nicht vorstellen.
» Erz ä hlen Sie mir etwas ü ber den Zeitablauf « Ihre Stimme klang belegt. Obwohl die Spurensicherung ihre Arbeit l ä ngst beendet hatte, zog sich Mareike einen Handschuh ü ber und ö ffnete Schr ä nke und Schubladen. Was sie zu finden hoffte, wusste sie selbst nicht.
Karsten beobachtete, was Mareike tat, und versuchte, sich zu konzentrieren. » Benjamin kam vorgestern, am Dienstag, dem 12. November, nicht nach Hause. Er hatte wegen zwei schlechter Noten die Schule geschw ä nzt. Sein Vater Peter Wagner meldete sein Verschwinden noch am
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