Der Kindersammler
Unfall gar nicht bemerkt haben. Erst von der Brücke aus kann man alles sehen.«
»Das ist ja interessant.« Weiland beugte sich vor und sah Alfred direkt in die Augen, was Alfred unangenehm war. »Warum habt ihr denn dann gerade da gehalten? Kannst du mir das erklären?«
Alfred kratzte sich am Rücken, um Zeit zu gewinnen. »Wir haben ne Sirene vom Polizeiwagen gehört, und darum haben wir angehalten.«
Kölling grinste. »Haut man nicht eher ab, wenn man das Martinshorn von einem Polizeiwagen hört und in einem geklauten Auto sitzt?«
Alfred zuckte mit den Achseln. Auch diese Ausrede war nach hinten losgegangen.
Weiland rieb sich die Hände. »Die Geschichte wird ja immer bunter. Also, ihr haltet an, weil ihr einen Polizeiwagen hört und neugierig werdet, lauft auf die Brücke, seht den Unfall, geht hin zur Unfallstelle, seht euch alles genau an, und dann fahrt ihr nicht etwa mit dem geklauten Auto, für das sich ja Gott sei Dank niemand interessiert hat, wieder nach Hause oder in die nächste Kneipe oder
was weiß ich, nein, einer von euch, nämlich du, marschiert elf Kilometer zu Fuß nach Hause. Ohne dass es einen Streit gegeben hat. Das kapier' ich nicht, Alfred. Und du kannst mir nicht erzählen, dass du Lust auf einen Spaziergang hattest. Das glaub' ich dir nämlich nicht.«
Alfred schwieg. Er wusste nicht mehr weiter.
Weiland war fast am Ziel. »Ich werd dir sagen, wie es war: Ihr gurkt mit dem geklauten Auto durch die Gegend, habt kein Ziel, und es ist ziemlich langweilig. Da kommt einer von euch auf die Idee, ein paar Steine von einer Brücke zu schmeißen. Davon habt ihr schon mal gehört, und das wollt ihr mal ausprobieren. Und im Dunkeln sieht euch auch keiner. Ihr wollt ja keinem was tun, ihr wollt nur mal ein bisschen die Autofahrer erschrecken, einfach mal beobachten, was passiert. Tolle Idee, endlich ist noch was los in dieser Nacht. Vielleicht willst du den andern imponieren, vielleicht denkst du auch einfach nicht, was das für Konsequenzen haben kann, jedenfalls wirfst du den ersten Stein, der trifft die Windschutzscheibe eines Käfers, und etwas Furchtbares geschieht. Das Auto schleudert und bleibt im Straßengraben liegen. Ihr bekommt alle einen Heidenschreck und rennt runter, um zu sehen, was wirk lich passiert ist. Du guckst durch die Scheibe und siehst, was du angerichtet hast. Plötzlich kapierst du, dass du eine Frau umgebracht hast, und haust ab. Läufst einfach los. Du hast einen Schock und rennst nach Hause. Lässt deine Kumpel Kumpel und das Auto Auto sein. War es so?«
Es war still in der Heinrichschen Küche. Niemand sagte ein Wort. Dann hielt es Edith nicht mehr aus.
»Das hast du gemacht, Alfred? Sag mal, spinnst du? Bist du von allen guten Geistern verlassen?«
Alfred wusste, dass es vorbei war. Er saß gehörig in der Tinte, es gab keine Ausrede und keinen Ausweg mehr. Und das machte ihn wütend. Er spürte, wie seine Wangen vor Zorn glühten, und hatte unbändige Lust alles in dieser verdammten Küche kurz und klein zu schlagen. Aber er tat es nicht, sondern starrte seine Mutter an, die seinem hasserfüllten Blick problemlos standhielt.
Warum bist du nie auf meiner Seite, dachte er und presste die Lippen aufeinander, um sie nicht anzuschreien. Ich hoffe, dass du nie meine Hilfe brauchst, Mama. Verlass dich bloß nicht auf mich, Mama, nie mehr!
Die drei Polizisten standen auf. »Wir müssen Ihren Sohn mitnehmen, Frau Heinrich«, erklärte Mareike.
Edith nickte. Als Alfred mit den Beamten zur Tür ging, sagte sie zu Mareike: »Sein Fruchtwasser war grün. Grün und giftig. Ich wusste immer, dass mit ihm etwas nicht stimmt.«
Die Beamten antworteten nicht und verließen mit Alfred das Haus. Alfred grinste. Grünes, giftiges Fruchtwasser. Nur der Bauch einer Hexe konnte sich damit füllen. Seine Mutter hatte ihn vergiften wollen, und er hatte es überlebt. Er war eben etwas Besonderes. Und das war ihm jetzt noch klarer als zuvor.
19
Hahnenmoor, November 1986
Auf dem Bahnhof-Zoo war es zugig und kalt. Alfred ging langsam den Bahnsteig entlang. Der nächste Zug nach Braunschweig sollte um vierzehn Uhr fünfzehn einfahren, jetzt war es dreizehn Uhr zweiunddreißig. Er hatte dreiundvierzig Minuten Zeit, und dennoch hatte er sich am Info-Schalter keine Fahrkarte gekauft. Er hasste es, wie ein Bittsteller in einer Schlange zu stehen und von seinem Hintermann angestarrt zu werden. Er wollte keinen Atem in seinem Nacken spüren und auf keinen Fall unabsichtlich berührt
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