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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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hatte sie immer wieder auf den Auslöser gedrückt, ohne viel darüber nachzudenken. Sie sah darin ihre einzige Chance, gegen das Furchtbare anzugehen.
    Auf einem der Fotos war das Gesicht eines Jungen zu sehen, der voller Entsetzen durch die Scheibe auf die beiden Opfer sah. Er hatte dunkle, leicht wellige Haare und markante Wangenknochen. Mareike hatte Tilli von der Seite fotografiert, und der Blitz hatte das Gesicht des Jungen voll beleuchtet.
    »Was hältst du davon?« Sie hielt Holger das Foto unter die Nase. »Tja ..., da guckt einer durchs Fenster. Er war ja nicht der einzige Gaffer.«
    »Sieh ihn dir doch mal genau an! Der ist vierzehn, vielleicht fünfzehn, allerhöchstens sechzehn!«
    »Na und?« Holger wusste nicht, worauf sie hinauswollte.
    Mareike stand auf und holte sich eine Tasse Kaffee vom Beistelltischchen an der Wand, auf dem die Kaffeemaschine stand und leise vor sich hin brodelte. Es war bestimmt ihre siebte Tasse in dieser Nacht.
    »Was tut ein Junge abends um halb elf auf der Autobahn? Kannst du mir das mal sagen? Die nächsten kleinen Orte sind alle kilometerweit entfernt.« »Mein Gott.« Holger sah das alles nicht so dramatisch. »Vielleicht stand er mit seinen Eltern im Stau, und die ganze liebe Familie hat wissen wollen, was passiert ist?«
    »Eltern mit einem Halbwüchsigen im Auto steigen nicht aus, um sich erschlagene und zermanschte Menschen anzusehen! Niemals! Die sind froh über jedes Bild von Gewalt, das ihr Sohn nicht unmittelbar mitbekommt. Nein, Holger, ich sag dir, was ein Fünfzehnjähriger nachts auf der Autobahn macht: Steine von der Brücke schmeißen!«
    Holger sah aus, als wache er jetzt erst auf. Er war plötzlich sehr nachdenklich. »Vielleicht hast du Recht.«
    »Wir müssen versuchen, ihn zu finden. Das Bild ist nicht schlecht.«
    »Gut.« Holger ging zur Landkarte, die an der Wand hing. »Hier war der Unfall. Und von dieser Brücke flog der Stein.« Er markierte die Stelle mit einer roten Stecknadel. »Die Kollegen von der Kripo sollten im Umkreis von dreißig Kilometern mit dem Foto in die Schulen gehen. Irgendwo wird man ihn kennen.«
    »Das denke ich auch. Ich schicke den Kollegen die Aufnahmen rüber und schreibe einen kurzen Bericht dazu
    Holger nickte, und Mareike setzte sich an ihren Schreibtisch. Sie war sehr mit sich zufrieden.
    Bereits zwei Tage später hatte die Kripo das Gesicht auf dem Foto identifiziert. Sie wusste, dass sein Name Alfred Heinrich war und dass er die neunte Klasse der Kurt-Tucholsky-Hauptschule besuchte.
    Am 23. Juni um fünfzehn Uhr dreißig standen zwei Krimimalbeamte und Mareike Koswig vor der Heinrichschen Tür. Mareike hätte eigentlich zu Hause im Bett liegen und schlafen müssen, denn sie hatte die ganze Woche Nachtschicht, aber der Fall interessierte sie so sehr, dass es ihr wichtiger war, die Kollegen zu begleiten. Sie überlegte ohnehin, ob sie nicht über kurz oder lang zur Kripo wechseln sollte.
    »Kripo Göttingen«, sagte Weiland, der ältere der beiden Beamten. »Ist Ihr Sohn zu Hause?«
    Edith nickte stumm. Sie runzelte die Stirn und sah aus, als erwarte sie in den nächsten fünf Minuten ihre Hinrichtung.
    »Das ist gut«, sagte Weiland. »Wir müssen ihm ein paar Fragen stellen, und Sie müssten dabei sein, weil er minderjährig ist.«
    Edith nickte erneut und öffnete die Tür weit, als Zeichen, dass die drei Beamten eintreten sollten.
    In der Küche saßen sie sich wenige Minuten später gegenüber. Alfred war flammend rot vor Aufregung und konnte nichts dagegen tun.
    »Wo warst du vorgestern Nacht, so zwischen zehn und elf?«, fragte Kölling, der jüngere der beiden Beamten.
    »Zu Hause. Wo soll ich sonst gewesen sein? Ich wohne hier.« Alfred versuchte, einen schnoddrig, lockeren Ton anzuschlagen, was bei den Beamten aber nicht sonderlich gut ankam.
    »Es soll vorkommen, dass man als Jugendlicher abends auch mal weggeht. Zu Freunden, in eine Kneipe oder Diskothek?« Alfred schüttelte den Kopf. »Ich war hier.«
    »Und was hast du den ganzen Abend gemacht?«, fragte Weiland. »Für diese Scheißschule Vokabeln gelernt. Englisch. Wir haben gestern ne Arbeit geschrieben.«
    »Und? Wie ist es gelaufen?«, fragte Mareike freundlich. »Beschissen. Hundertprozentig verhauen.«
    »Dann kannst du ja nicht so toll gelernt haben«, meinte Kölling trocken.
    »Doch. Aber es kam was völlig anderes. Nicht das, was ich konnte.«
    Weiland nickte ein deutliches >Ich-glaube-dir-kein-Wort< und wandte sich an Alfreds

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