Der Kindersammler
werden. Die unvermeidbare Enge in einer Menschenschlange machte ihn unsicher und nervös.
Seine gesamten Habseligkeiten hatte er in zwei Taschen verstaut: eine lederne Umhängetasche, die sehr schwer war und deren Riemen ihm tief in die Schulter schnitt, und eine blau-grüne Sporttasche aus Plastik, deren unhandliches bauchiges Format ihn beim Gehen behinderte, was ihn wütend machte. Minutenlang spielte er mit dem Gedanken, die beiden Taschen einfach auf dem Bahnsteig stehen zu lassen und wegzugehen oder sie in das Abteil eines Zuges zu stellen, mit dem er nicht fahren würde. Dann wäre er endlich frei. Selbst ein auf zwei Taschen reduzierter Besitz erschien ihm wie störender Ballast. Aber dann verwarf er den Gedanken wieder. Dort, wo er hinwollte, brauchte er einige Dinge, die überlebenswichtig waren: Streichhölzer, Kerzen, Messer, Taschenlampe und einiges mehr.
Alfred verließ den Bahnsteig noch einmal und schleppte sich mit seinem Gepäck die Treppe hinunter zurück ins Bahnhofsgebäude. An einem Kiosk kaufte er sich einen Hot Dog mit Senf und dazu einen Kaffee. Das Quietschen der Züge war selbst hier in der Bahnhofshalle ohrenbetäubend laut. Die Ansagen, die andauernd aus den Lautsprechern plärrten, waren nicht zu verstehen. Wer darauf angewiesen ist, kann einpacken, dachte Alfred. Ein Ausländer hat überhaupt keine Chance.
Aus dem Mülleimer, der direkt neben ihm stand, kam der Gestank von vergammelten Fleischresten, und Alfred wechselte den Stehtisch, weil ihm sofort übel wurde.
Noch fünfunddreißig Minuten.
Braunschweig. Merkwürdigerweise freute er sich fast darauf, nach Braunschweig zu fahren. Dort hatte er drei iahte mit Grete gewohnt. Margarete Fischer, seine Noch-Ehefrau und Mutter seines Sohnes firn.
Es war ein wunderschöner Sommertag vor sechs fahren Anfang Juli, als er Grete das erste Mal beim Joggen begegnete. Er putzte nachts in einem Bürohaus und hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, am Morgen noch ein paar Kilometer zu laufen, bevor er sich schlafen legte. Die sportliche Frau, die wesentlich älter war als er, lief dieselbe Strecke und hielt mit seinem Tempo locker Schritt. So liefen sie fast zwangsläufig nebeneinander her. Er lud sie zum Kaffee ein. Bereits bei diesem ersten Treffen erfuhr er, dass sie sechs unddreißig war und einen elfjährigen Sohn, Tom, hatte, mit dem sie allein lebte. Toms Vater hatte sie verlassen als Tom zwei Jahre alt war. Ohne Grund, ohne Erklärung— eines Tages war er einfach weg und hatte sich nie wieder gemeldet. Sie hatte keine Telefonnummer, keine Adresse, wusste noch nicht einmal, ob er noch lebte.
Alfred fand es faszinierend dass sich ein Mann in unserer zivilisierten Welt einfach so in Luft aufgelöst hatte, aber das sagte er ihr nicht. Er hatte Angst, sie zu verletzen.
Sie erzählte, dass sie in einer Buchhandlung arbeite und mit ihrem Job sehr zufrieden sei. Da sie viel lese, brauche sie das Joggen unbedingt als Ausgleich.
Als sie ihn fragte, was er mache, sagte er, er studiere Wirtschafts wissenschaften im dritten Semester. Er habe wenig Geld, eine winzige Wohnung und putze nachts in einem Bürohaus, um sein Studium zu finanzieren.
Grete imponierte dis. Sie tauschten Telefonnummern aus und verabredeten sich für den nächsten Morgen.
Dass er die Beziehung zu Grete gleich mit einer Lüge begonnen hatte, belastete ihn überhaupt nicht.
In der kommenden Woche sahen sie sich täglich. Sie liefen jeden Morgen ihre Strecke durch den Forst und frühstückten dann gemeinsam, da Grete erst um zehn in der Buchhandlung sein musste. Tom ging in die fünfte Klasse, er aß meist bei seinem Freund Stefan zu Mittag, machte dort auch seine Schularbeiten und kam dann gegen Abend nach Hause, so wie Grete auch. Das klappte problemlos, die Mutter von Stefan war froh, dass ihr Sohn nicht immer allein war, und hatte ein Auge auf die beiden. Dafür organisierte Grete ab und zu einen Ausflug am Wochenende und entlastete dann Stefans Mutter für ein paar Stunden. Hin und wieder übernachtete Stefan auch am Wochenende bei Tom.
Am Samstag der zweiten Woche lud Grete Alfred zum Abendessen in ihre Wohnung ein. Sie kochte gern und wollte sich etwas einfallen lassen.
Alfred kam pünktlich. Er brachte Rosen mit und ein Spielzeugauto für Tom, den er an diesem Abend zum ersten Mal sah.
Tom war ein ausgesprochen hübscher Junge. Er hatte glattes, dunkles Haar, das ihm immer wieder in die Stirn fiel und das er mit einer Kopfbewegung aus den Augen schüttelte.
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