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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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er sie. Das war sein abschließender Kommentar.
    Das Badetuch war mittlerweile voller Wespen, und auch die Melone war von den Insekten völlig in Beschlag genommen. Grete schüttelte sich vor Entsetzen. Sie rief die Jungen und flüchtete dann so schnell wie möglich ins Auto, während Alfred die Melone ins Gebüsch warf, das Badetuch im See ausspülte, sich anzog, alles zusammenpackte und im Wagen verstaute.
    Grete brachte einen gesunden Jungen zur Welt, der 3 300 Gramm wog, einundfünfzig Zentimeter lang war und den sie Jim nannten. Alfred hatte sich den Namen gewünscht, als Erinnerung an seinen Vater, der nach Amerika ausgewandert war und den er schon ewig nicht mehr gesehen hatte. Grete hatte nichts dagegen. Das unentwegt schreiende Baby auf ihrem Arm hatte eine kleine Stupsnase und sah genau aus wie ein »Jim«, davon war sie überzeugt.
    Vier Wochen später fand die Hochzeit statt. Alfred hatte niemanden aus seiner Familie zur Feier eingeladen, was Grete überhaupt nicht verstehen konnte, aber letztlich war es ihr herzlich egal. Wichtig war für sie nur, dass sie jetzt einen wundervollen Ehemann und Vater für ihre beiden Söhne hatte.
    Für Alfred war von Bedeutung, dass er Gretes Namen angenommen hatte.
    Er hieß jetzt Alfred Fischer, und nichts erinnerte mehr an den Alfred Heinrich, der er bis zu seiner Hochzeit gewesen war.
    Als er in Braunschweig ankam, hatte Alfred nur noch das dringende Bedürfnis, allein zu sein. Die Menschen im Zug, auf den Bahnhöfen, in den Straßen und auch die vorweihnachtliche Stimmung in der Stadt zwei Tage vor dem ersten Advent gingen ihm erheblich auf die Nerven. Die ersten Weihnachtssterne blinkten in den Fenstern, und vor der Tür des Kaufhofs gingen schlampig verkleidete Weihnachtsmänner mit Bärten, die lediglich mit Gummibändern hinter den Ohren festgehalten wurden, auf und ab und verteilten Prospekte. Es regnete leicht, und der Verkehr staute sich in alle Richtungen.
    Alfred nahm den Bus um siebzehn Uhr dreißig in Richtung Gelle. Sein Lieblingsplatz in der letzten Reihe war frei. Er kontrollierte, ob nirgendwo ein Kaugummi klebte oder ein Fleck auf den Plastikbezügen war, und setzte sich dann ans Fenster.
    In Watenbüttel bog der Bus auf die Bundesstraße 214 ein. Jetzt, in der Dunkelheit, konnte er von der Gegend zwar nicht viel erkennen, aber er mochte es, durch die kleinen Dörfer zu fahren und sich vorzustellen, wie hinter den beleuchteten Fenstern Kinder Schularbeiten machten, fernsahen, mit Freunden spielten oder mit ihren Eltern beim Abendbrot saßen.
    In Ohof stieg er aus und wartete fünfunddreißig Minuten auf einen Bus, mit dem er bis Müden fuhr. Den Rest ging er zu Fuß.
    Hier in dieser Gegend kannte er sich glänzend aus. Er mied die großen Wege und ging mit schlafwandlerischer Sicherheit durch den Wald und auf schmalen Pfaden durchs Moor. Im Winter waren um diese Zeit keine Spaziergänger mehr unterwegs, und er sah auch kein am Waldrand geparktes Auto, in dem sich ein Liebespaar vergnügte.
    Ohne einem Menschen zu begegnen erreichte er nach zwanzig Minuten den Steinbruch. Der Bauwagen, den er suchte, stand immer noch an derselben
    Stelle. Sein Herz klopfte so wild, dass es ihm in den Ohren dröhnte, als er mit seinem Taschenmesser die Tür aufbrach.
    Auf dem Tisch standen leere Olsardinendosen, die als Aschenbecher benutzt worden waren und vor Kippen überquollen, außerdem jede Menge leere Bierflaschen. An der Tür hing jetzt das Poster eines Pin-up-Girls, das mit Dart-Pfeilen beworfen und vor allem in die üppige Brust getroffen worden war.
    Vor dem winzigen Fenster hing immer noch der orange-beigegestreifte Fetzen Gardine, der auch schon vor drei Jahren dort gehangen hatte, nur dass die Farben mittlerweile fast völlig verblasst waren. Er lächelte, als er sich daran erinnerte, wie er die Gardine zugezogen hatte, als Daniel nackt vor ihm lag, mit vor Angst weit aufgerissenen Augen und schweißnasser Stirn. An Entdeckung hatte er keine Sekunde gedacht, er wollte durch das Zuziehen der Gardine lediglich verhindern, dass irgendjemand diesen zarten Jungen, der einzig und allein ihm gehörte und nur für ihn bestimmt war, so bloß, in seiner ganzen Unschuld sehen könnte.
    Alfred setzte sich auf die Pritsche und strich leicht über die Decke.
    Daniel. Zwei Tage und eine Nacht hatte er mit ihm gespielt, bis er zu erschöpft war, um den Rausch noch weiter auszudehnen. Es war eine kleine Ewigkeit gewesen, die intensivste und wunderbarste Zeit, die er je

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