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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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hingeben, die er einzigartig fand und an denen er sich ergötzen konnte. Irgendwann würde er sie aufschreiben und sich selbst ein Denkmal setzen, damit seine Ideen niemals in Vergessenheit geraten konnten.
    Daniel und Benjamin sie waren seine Geschöpfe. Er entschied über Leben und Tod, über die Art und den Zeitpunkt ihres Sterbens. Er gehörte zu den Auserwählten, die das Recht hatten, über andere zu richten. Und dieses Wissen beflügelte ihn. Sein Dasein hatte einen Sinn, eine Berechtigung. Benjamin und Daniel waren Kreaturen, Alfred ihr Gott.
    Alfred schreckte hoch, weil er Stimmen im Steinbruch hörte. Vollkommen lautlos legte er das Buch weg und nahm instinktiv die Flasche Rum, die er gekauft hatte, in die Hand, um notfalls damit zuzuschlagen. All seine Muskeln waren gespannt. Er hielt den Atem an.
    Durch einen Riss in der Bretterwand sah er ein Paar, das sich stritt. Haut ab, dachte er, haut bloß ab. Er hörte nicht zu, was sie sagten und worüber sie stritten, er fixierte sie nur und atmete flach. Er fühlte sich derart gestört, dass er Kopfschmerzen bekam. Vor seinen Augen begann es zu flimmern. Wenn er ein Gewehr gehabt hätte, hätte er geschossen. Das wusste er. Haut bloß ab, dachte er immer wieder, bevor ich die Tür von diesem verdammten Bauwagen aufreiße und irgendwas passiert.
    Wild gestikulierend und aufeinander einredend, entfernte sich das Paar schließlich langsam. Als es aus Alfreds eingeschränktem Blickfeld ver schwunden war, horchte er noch einige Minuten angestrengt, und als er nichts mehr hörte, ging er hinaus und vergewisserte sich, dass die beiden wirklich weg waren. Dann pinkelte er in den Sand und verschwand wieder im Bauwagen.
    Auf der Pritsche lag eine Wolldecke, die so bitter und stockig roch, als wäre sie seit Jahren nicht mehr gewaschen worden. Aber Alfred störte sich nicht daran. Es war jedenfalls nicht die Decke, auf der Daniel gelegen hatte. Da war er ganz sicher. Die hatte die Spurensicherung wahrscheinlich mitgenommen. Das amüsierte ihn schon wieder, und seine gute Laune kehrte zurück.
    Er legte sich hin, rollte sich in die Decke und klemmte sie so gut es ging unter seinem Körper fest. Noch einmal gingen ihm Dostojewskis Sätze durch den Kopf: »Die Gewöhnlichen haben im Gehorsam gegen die Gesetze zu leben und sind nicht berechtigt, sie zu übertreten, weil sie eben gewöhnliche Menschen sind. Aber die Außergewöhnlichen haben das Recht, jedes Verbrechen zu begehen und jedes Gesetz zu übertreten, eben weil sie Außergewöhnliche sind.«
    Alles an mir ist außergewöhnlich, dachte Alfred und schlief völlig mit sich im Reinen ein.
    21
    Berlin, Januar 1987
    Marianne Wagner wusste, dass sie nach dem Frühstück um sieben die zwei weißen Tabletten schlucken und nach dem Mittagessen um zwölf die große rosafarbene Pastille in Wasser auflösen und
    das Glas in einem Zug austrinken musste, was absolut widerlich schmeckte. Zum Kaffee um vier bekam sie drei golden schimmernde, durchsichtige Kapseln, die sie immer lange in ihren Fingern drückte und drehte, so wunderbar sahen sie aus und noch besser fühlten sie sich an. Es war jedes Mal richtig schade, wenn sie sie mit einem lauwarmen Schluck ungesüßtem Hagebuttentee hinunterspülte. Nach den durchsichtigen Kapseln kam manchmal Peter zu Besuch. So gegen fünf. Wenn er noch stehen und einiger maßen gehen konnte. Peter hatte völlig den Boden unter den Füßen verloren. Er behauptete, Urlaub zu haben, aber Marianne wusste, dass das eine Lüge war denn seit Benjamins Tod waren fast zwei Monate vergangen, und er saß immer noch zu Hause und trank. Er würde nicht mehr zur Arbeit gehen. Nie mehr. Davon war sie überzeugt.
    Peter quälte sich beinah jeden Tag in die Klinik, weil er sie liebte. Weil sie der einzige Halt war, den er auf dieser Welt noch hatte. Das spürte und das wusste sie, aber das half ihr jetzt auch nicht mehr weiter.
    Kraftlos und mit rundem Rücken saß er auf ihrer Bettkante und erzählte ihr immer und immer wieder jede Kleinigkeit, die er von Benjamin wusste, weil sie alles wissen wollte. Der Schmerz war leichter zu ertragen, wenn man ihn nicht allein erleiden musste, wenn man das Ungeheuerliche aussprach, statt es immer und immer wieder nur zu denken. Er erzählte ihr zum tausendsten Mal wie und wo man Benny gefunden und wie er auf der eiskalten chrom glänzenden Bahre in der Pathologie ausgesehen hatte. Peter hatte Schwierigkeiten gehabt, seinen Sohn zu erkennen, denn so leblos und blass war ihm

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