Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
Vom Netzwerk:
das kleine Gesicht völlig fremd. Bennys Haut wirkte wächsern, wie aus Knetmasse modelliert, als könne er ihn so mit nach Hause nehmen und auf die Couch legen. Und Benny würde sich nie mehr verändern. Nicht verwesen, nicht verschwinden, nur ein bisschen verstauben vielleicht.
    Peter hatte ihn auf die Wange geküsst. Und seine Haut hatte sich angefühlt wie ein kalter Käse, der gerade aus dem Kühlschrank kam. Dann war er zusammengebrochen.
    Marianne beneidete ihn um diesen Kuss. Sie hatte nur die Erinnerung an den Abschied von Benny an jenem Morgen, als sie nicht gewusst hatte, dass es ein Abschied für immer sein würde. Peter konnte begreifen, dass Benny tot war, weil er seine Leiche gesehen hatte, sie konnte es nicht.
    Zwei Wochen lang hatte sie überlegt, was ihr geblieben war. Ein arbeitsloser Mann, der dabei war, sich zu Tode zu trinken, eine unheilbare Krankheit, eine bald unbezahlbare Wohnung und ein totes Kind. Das war weniger als nichts.
    Sie schluckte jeden Tag brav die Tabletten und Kapseln und führte nach dem Abendessen das Zäpfchen ein, weil es so wunderbar schläfrig machte und sie vor Angstattacken schützte. Seit sie in der Klinik war, hatte sie noch nicht ein einziges Mal geträumt. Dafür war sie dankbar. Vor einigen Tagen hatte sie beim Fernsehen sogar einmal laut gelacht, obwohl sie sich nicht mehr daran erinnern konnte, was sie gesehen hatte.
    Aber sie hatte schon lange keine Übungen mehr gemacht, hatte sich nicht dazu gezwungen, es wieder und wieder zu versuchen, wenigstens ein paar Schritte zu gehen. Und das war ein Fehler. Das merkte sie jetzt.
    Sie hatte es sich nicht so schwer vorgestellt, sich aus dem Rollstuhl hochzuziehen und am Fenstergriff festzuhalten. Danach musste sie bereits ein paar Sekunden ausruhen. Aber das war egal, denn um diese Zeit war auf der Station niemand mehr unterwegs. Die Nachtschwester saß im Schwesternzimmer und las »Die Elenden« von Victor Hugo. Das hatte sie Marianne erzählt, weil sie unbeschreiblich stolz darauf war, sich durch so einen dicken Wälzer durchzubeißen. Die Gefahr, dass die Schwester ins Zimmer kam, war also relativ gering.
    Es war vollkommen ruhig auf der Station. Niemand weinte, niemand schrie, niemand ging laut mit sich selbst redend den Flur auf und ab. In weiter Ferne hörte sie die jaulende Alarmanlage eines Autos und musste lächeln. Was die Leute doch für Probleme hatten! Kauften teure Alarmanlagen, um sich vor so etwas Banalem wie dem Diebstahl eines Autos abzusichern.
    Eine warme Welle der Vorfreude durchflutete sie, ließ sie tiefer atmen und erfüllte sie mit Kraft. Sie nutzte den Moment, drehte den Griff des Fensters und öffnete es langsam. Die eisige Luft legte sich auf ihre Brust—sie trug nichts weiter als ein Nachthemd. Das war jetzt nicht mehr zu ändern. Wenn sie die Schwester gebeten hätte, ihr beim Anziehen zu helfen, wäre diese stutzig geworden.
    Jetzt kam der schwierigste Teil. Sie klammerte sich an den offen stehenden Fensterflügel, der hin und her schwang und ihr kaum Halt gab, aber es gelang ihr, sich erneut ein wenig hochzuziehen und den winzigen Hüpfer mit ihren
    Armen zu unterstützen, der sie auf dem Fensterbrett zum Sitzen kommen ließ. Gott sei Dank war die Fensterbank breit genug. Langsam zog sie mit den Händen das linke Bein hoch und ließ es außen aus dem Fenster hängen, wäh rend sie sich am Fensterrahmen festhielt, um nicht hinunterzufallen. Noch nicht. Noch war es nicht so weit. Dasselbe machte sie mit dem rechten Bein. Jetzt baumelten beide Beine außen an der Hausfassade, und sie brauchte sich eigentlich nur noch abzustoßen.
    Marianne starrte in die Tiefe. Vor ihr lag ein klein er Teil des Klinikparks mit zwei schmalen Rasenflächen und zwei Bänken. Drei Laternen beleuchteten den schnurgeraden Weg. Kein Ort zum Träumen, dachte sie, auch kein Ort, um sich von seinem Liebsten zu verabschieden.
    Vielleicht wirst du noch mal ein Kind haben, hatte sie gedacht, als Peter vorhin um fünf bei ihr gewesen war. Mit einer jüngeren und vor allem mit einer gesunden Frau. Wenn du es schaffst, dich nicht zu Tode zu saufen, wird die Erinnerung an Benny allmählich verblassen. Ich würde es dir nicht einmal übel nehmen.
    Sie strich ihm zum letzten Mal übers Haar, fuhr mit zwei Fingern zart über seine Wange und hielt an seinen Lippen inne. Mechanisch küsste er ihre Finger. Sagen konnte sie nichts. Es war schwer genug, die Tränen zurückzuhalten.
    »Ich habe bei Aidi Erdbeeren gesehen«, sagte er

Weitere Kostenlose Bücher