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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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kurz bevor er ging. »Stell dir so was Bescheuertes vor! Jetzt im Winter! Aber ich bringe sie dir mit. Morgen Nachmittag, wenn ich komme.« Er grinste, so wie er gegrinst hatte, als sie sich vor zwölf Jahren in einer Eisdiele kennen gelernt hatten, und dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
    Jetzt auf dem Klinikfensterbrett dachte sie an die Erdbeeren, die er für sie kaufen und die sie nicht mehr essen würde. Sie weinte, weil er ihr so Leid tat.
    Einen Augenblick wollte sie noch warten, bis sie sich beruhigt hatte. Mit dem Saum ihres Nachthemds wischte sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln und wäre dadurch beinah vornüber aus dem Fenster gefallen.
    Im ersten Moment erschrak sie, aber das ging schnell vorüber. Dann dachte sie nicht mehr an Peter, sondern an Benny, den sie in wenigen Sekunden wiedersehen würde. Irgendwo da oben im Sternenmeer. Davon war sie überzeugt.
    Und als ihr Herz vor Freude zu klopfen begann, stieß sie sich vom Fensterbrett ab und flog ihm entgegen.
    22
    Göttingen, September 1989
    »Auf dich«, sagte Mareike und hob ihr Glas.
    Bettina lächelte. »Auf uns.«
    Heute, am 16. September, waren sie auf den Tag fünf Jahre zusammen und saßen bei ihrem Lieblingsitaliener, um das Jubiläum zu feiern. Mareike war sehr entspannt und zufrieden. Im Grunde war sie ein glücklicher Mensch. Sie hatte eine Freundin, mit der sie zusammenlebte und die sie sehr liebte, sie hatte einen Beruf, den sie als sinnvoll empfand und der ihr, bis auf ein paar Rückschläge und Frustrationen, Spaß machte, sie hatte keine finanziellen Sor gen und war gesund. Mehr konnte der Mensch nicht erwarten. Und während sie das Glas in der Hand hielt und Bettina zuprostete, hoffte sie in Gedanken, dass es so bleiben möge.
    Seit sie sich entschieden hatten, nun doch ein Kind zu adoptieren, war Bettina ein anderer Mensch geworden. Voller Lebensfreude und Energie und mit ungebrochenem Kampfgeist, was die bürokratischen Hürden betraf, die ihnen Jugend- und Sozialamt in den Weg legten. Die Vorurteile, die man einem lesbischen Paar entgegenbrachte, waren geradezu abenteuerlich. Doch Bettina biss sich durch und ließ nicht locker. Mareike bewunderte ihre unglaubliche Sturheit.
    Mareike und Bettina hatten sich im Kino kennen gelernt. Durch Zufall saßen sie nebeneinander. Mareike fand die kleine Pummelige, die neben ihr saß und ohne Pause Popcorn in sich hineinstopfte, unerträglich. Genauso ging es Bettina, die ihre Nachbarin als humorlose, vertrocknete Ziege einstufte und es als Zumutung empfand, dass diese während des Films ihre Schuhe auszog. Keiner wusste heute noch zu sagen, was der Auslöser gewesen war und warum sie angefangen hatten sich zu streiten und sich irgendwann ankeiften wie zwei wild gewordene Hyänen. Als ihnen die Unverschämtheiten ausgingen, fingen sie an zu kichern und verließen das Kino, um sich irgendwo ungestört weiter unterhalten zu können. Aus der anfänglichen Antipathie wurde sehr schnell Sympathie. Bald waren beide unzertrennliche Freundinnen, aber es dauerte anderthalb Jahre, bis sie das erste Mal miteinander ins Bett gingen.
    »Ich habe zu Hause eine Flasche Schampus kaltgestellt«, flüsterte Bettina. »Was hältst du nachher von einer kleinen Orgie?«
    »Großartig«, meinte Mareike. »Aber dann müssen wir jetzt aufhören, Wein zu trinken, sonst habe ich morgen im Büro einen dicken Kopf und zwei Promille Restalkohol.«
    Bettina grinste. Nichts und niemand würde sie je auseinander bringen. Mareike war jetzt einundvierzig, sie selbst fünfunddreißig. Bettina war davon überzeugt, dass sich ihr Leben dreißig Jahre lang unbeirrt und zielgerichtet nur auf den Tag hinbewegt hatte, an dem sie im Kino neben der Frau gelandet war, die von da an ihr gesamtes Denken und Fühlen bestimmen sollte.
    Der Kellner brachte das Essen. Eine Gemüse-Lasagne für Bettina und für Mareike ein Pfeffersteak mit Sahnesoße.
    »Guten Appetit, mein Engel«, sagte Mareike gerade, als ihr Handy klingelte.
    »Nein«, stöhnte Bettina. »Bitte nicht jetzt. Nicht heute Abend!« Mareike zuckte nur die Achseln und hörte, was ihr Kollege zu sagen hatte.
    »Ich muss nach Sylt«, erklärte sie, als sie das Gespräch beendet hafte. »Unser Kindermörder hat wieder zugeschlagen. Ein kleiner blonder Lunge. Sie haben ihn vor zwei Stunden in den Dünen gefunden.«
    »Ist es denn sicher, dass ...«
    »Es ist sicher«, fiel ihr Mareike ins Wort. »Er ist es. Er hat wieder seine Trophäe behalten. Es tut mir so Leid,

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